Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

oder auch nur von einem Theile derselben befreyt; sie
steige daher mit jener zugleich, aber nicht bloss durch
ihre Hülfe, sondern auch durch eigene Kraft, von der
statischen Schwelle empor: so kann man sehr leicht zu
einem Irrthume verleitet werden, der mich wenigstens
lange geblendet, und mir den Zugang zu einem Haupt-
puncte in der Lehre von den Gefühlen versperrt hat.

Es scheint nämlich, man müsste nun zu dem obigen
Differential do noch dasjenige addiren, welches das Stei-
gen durch eigene Kraft ausdrückt; also wenn P auf ein-
mal von aller Hemmung frey wäre, folgendermaassen:
[Formel 1]
Die Folge hiervon wäre, dass o nun geschwinder als
sonst, oder dass ein grösseres o in bestimmter Zeit her-
vorträte.

Allein es ist falsch, dass durch ein Zusammentreffen
von Kräften, die nicht schon zuvor eine Gesammtkraft
gebildet haben, die Geschwindigkeit könnte vermehrt wer-
den. Denn jede von diesen Kräften, sey sie eine Hülfe,
oder eigene Energie der steigenden Vorstellung, hat ihr
Zeitmaass, in welchem sie wirkt; wie wir dieses aus dem
vorigen §. kennen. Wenn nun das, was sie in diesem
Zeitmaasse zu vollbringen im Begriff war, durch eine an-
dre, stärkere Kraft, geschwinder geschieht: so kann sie
zum Mitwirken gar nicht gelangen; eben weil in jedem
Augenblicke ihr Streben mehr als befriedigt wird. Wir-
ken demnach mehrere solche Kräfte zusammen: so be-
stimmt die stärkste derselben für sich allein die Ge-
schwindigkeit des Ereignisses; für alle übrigen aber ist
eine Befriedigung ihres Strebens durch glücklichen Zu-
fall vorhanden. Und dieser ihr Zustand muss im Be-
wusstseyn eine Bestimmung abgeben, die den Gefühlen
anheim fällt, -- ohne Zweifel als ein Lustgefühl, --
während in Ansehung des Vorgestellten sich dadurch
nichts verändert.

Wenn nun P zugleich durch eigne Kraft steigt, in-

oder auch nur von einem Theile derselben befreyt; sie
steige daher mit jener zugleich, aber nicht bloſs durch
ihre Hülfe, sondern auch durch eigene Kraft, von der
statischen Schwelle empor: so kann man sehr leicht zu
einem Irrthume verleitet werden, der mich wenigstens
lange geblendet, und mir den Zugang zu einem Haupt-
puncte in der Lehre von den Gefühlen versperrt hat.

Es scheint nämlich, man müſste nun zu dem obigen
Differential noch dasjenige addiren, welches das Stei-
gen durch eigene Kraft ausdrückt; also wenn Π auf ein-
mal von aller Hemmung frey wäre, folgendermaaſsen:
[Formel 1]
Die Folge hiervon wäre, daſs ω nun geschwinder als
sonst, oder daſs ein gröſseres ω in bestimmter Zeit her-
vorträte.

Allein es ist falsch, daſs durch ein Zusammentreffen
von Kräften, die nicht schon zuvor eine Gesammtkraft
gebildet haben, die Geschwindigkeit könnte vermehrt wer-
den. Denn jede von diesen Kräften, sey sie eine Hülfe,
oder eigene Energie der steigenden Vorstellung, hat ihr
Zeitmaaſs, in welchem sie wirkt; wie wir dieses aus dem
vorigen §. kennen. Wenn nun das, was sie in diesem
Zeitmaaſse zu vollbringen im Begriff war, durch eine an-
dre, stärkere Kraft, geschwinder geschieht: so kann sie
zum Mitwirken gar nicht gelangen; eben weil in jedem
Augenblicke ihr Streben mehr als befriedigt wird. Wir-
ken demnach mehrere solche Kräfte zusammen: so be-
stimmt die stärkste derselben für sich allein die Ge-
schwindigkeit des Ereignisses; für alle übrigen aber ist
eine Befriedigung ihres Strebens durch glücklichen Zu-
fall vorhanden. Und dieser ihr Zustand muſs im Be-
wuſstseyn eine Bestimmung abgeben, die den Gefühlen
anheim fällt, — ohne Zweifel als ein Lustgefühl, —
während in Ansehung des Vorgestellten sich dadurch
nichts verändert.

Wenn nun Π zugleich durch eigne Kraft steigt, in-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0315" n="295"/>
oder auch nur von einem Theile derselben befreyt; sie<lb/>
steige daher mit jener zugleich, aber nicht blo&#x017F;s durch<lb/>
ihre Hülfe, sondern auch durch eigene Kraft, von der<lb/>
statischen Schwelle empor: so kann man sehr leicht zu<lb/>
einem Irrthume verleitet werden, der mich wenigstens<lb/>
lange geblendet, und mir den Zugang zu einem Haupt-<lb/>
puncte in der Lehre von den Gefühlen versperrt hat.</p><lb/>
              <p>Es scheint nämlich, man mü&#x017F;ste nun zu dem obigen<lb/>
Differential <hi rendition="#i">d&#x03C9;</hi> noch dasjenige addiren, welches das Stei-<lb/>
gen durch eigene Kraft ausdrückt; also wenn &#x03A0; auf ein-<lb/>
mal von aller Hemmung frey wäre, folgendermaa&#x017F;sen:<lb/><hi rendition="#c"><formula/></hi><lb/>
Die Folge hiervon wäre, da&#x017F;s <hi rendition="#i">&#x03C9;</hi> nun <hi rendition="#g">geschwinder</hi> als<lb/>
sonst, oder da&#x017F;s ein grö&#x017F;seres <hi rendition="#i">&#x03C9;</hi> in bestimmter Zeit her-<lb/>
vorträte.</p><lb/>
              <p>Allein es ist falsch, da&#x017F;s durch ein Zusammentreffen<lb/>
von Kräften, die nicht schon zuvor eine Gesammtkraft<lb/>
gebildet haben, die Geschwindigkeit könnte vermehrt wer-<lb/>
den. Denn jede von diesen Kräften, sey sie eine Hülfe,<lb/>
oder eigene Energie der steigenden Vorstellung, hat ihr<lb/>
Zeitmaa&#x017F;s, in welchem sie wirkt; wie wir dieses aus dem<lb/>
vorigen §. kennen. Wenn nun das, was sie in <hi rendition="#g">diesem</hi><lb/>
Zeitmaa&#x017F;se zu vollbringen im Begriff war, durch eine an-<lb/>
dre, stärkere Kraft, geschwinder geschieht: so kann sie<lb/>
zum Mitwirken gar nicht gelangen; eben weil in jedem<lb/>
Augenblicke ihr Streben mehr als befriedigt wird. Wir-<lb/>
ken demnach mehrere solche Kräfte zusammen: so be-<lb/>
stimmt die stärkste derselben <hi rendition="#g">für sich allein</hi> die Ge-<lb/>
schwindigkeit des Ereignisses; für alle übrigen aber ist<lb/>
eine Befriedigung ihres Strebens durch glücklichen Zu-<lb/>
fall vorhanden. Und dieser ihr Zustand mu&#x017F;s im Be-<lb/>
wu&#x017F;stseyn eine Bestimmung abgeben, die den <hi rendition="#g">Gefühlen</hi><lb/>
anheim fällt, &#x2014; ohne Zweifel als ein <hi rendition="#g">Lustgefühl</hi>, &#x2014;<lb/>
während in Ansehung des Vorgestellten sich dadurch<lb/>
nichts verändert.</p><lb/>
              <p>Wenn nun &#x03A0; zugleich durch eigne Kraft steigt, in-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[295/0315] oder auch nur von einem Theile derselben befreyt; sie steige daher mit jener zugleich, aber nicht bloſs durch ihre Hülfe, sondern auch durch eigene Kraft, von der statischen Schwelle empor: so kann man sehr leicht zu einem Irrthume verleitet werden, der mich wenigstens lange geblendet, und mir den Zugang zu einem Haupt- puncte in der Lehre von den Gefühlen versperrt hat. Es scheint nämlich, man müſste nun zu dem obigen Differential dω noch dasjenige addiren, welches das Stei- gen durch eigene Kraft ausdrückt; also wenn Π auf ein- mal von aller Hemmung frey wäre, folgendermaaſsen: [FORMEL] Die Folge hiervon wäre, daſs ω nun geschwinder als sonst, oder daſs ein gröſseres ω in bestimmter Zeit her- vorträte. Allein es ist falsch, daſs durch ein Zusammentreffen von Kräften, die nicht schon zuvor eine Gesammtkraft gebildet haben, die Geschwindigkeit könnte vermehrt wer- den. Denn jede von diesen Kräften, sey sie eine Hülfe, oder eigene Energie der steigenden Vorstellung, hat ihr Zeitmaaſs, in welchem sie wirkt; wie wir dieses aus dem vorigen §. kennen. Wenn nun das, was sie in diesem Zeitmaaſse zu vollbringen im Begriff war, durch eine an- dre, stärkere Kraft, geschwinder geschieht: so kann sie zum Mitwirken gar nicht gelangen; eben weil in jedem Augenblicke ihr Streben mehr als befriedigt wird. Wir- ken demnach mehrere solche Kräfte zusammen: so be- stimmt die stärkste derselben für sich allein die Ge- schwindigkeit des Ereignisses; für alle übrigen aber ist eine Befriedigung ihres Strebens durch glücklichen Zu- fall vorhanden. Und dieser ihr Zustand muſs im Be- wuſstseyn eine Bestimmung abgeben, die den Gefühlen anheim fällt, — ohne Zweifel als ein Lustgefühl, — während in Ansehung des Vorgestellten sich dadurch nichts verändert. Wenn nun Π zugleich durch eigne Kraft steigt, in-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/315
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/315>, abgerufen am 25.11.2024.