seine Richtigkeit, so würde dabey noch vergessen oder verkannt seyn, dass alle Anschauung, innere sowohl als äussere, um sichere Ueberzeugung zu begründen, erst die Probe machen muss, ob sie sich im Denken halten könne? oder ob sie ein blosser Stoff für Kritik und Umarbeitung werde, sobald der Denker sie ernstlich angreift? Des leichten Beyspiels, welches die Astronomie uns liefert, indem sie die scheinbaren Bewegungen auf die wahren zurückführt, ist kaum nöthig, zu erwähnen.
Um nichts besser werde ich zusammenstimmen mit Denen, welche durch das Dogma von der sogenannten transscendentalen Freyheit des Willens einen gro- ssen Theil der psychologischen Thatsachen der allgemei- nen Gesetzmässigkeit entweder geradezu entziehen, oder doch diese Gesetzmässigkeit für blosse Erscheinung er- klären. Diese häufen irrige Ansichten der praktischen Philosophie auf psychologische Vorurtheile; indem sie die Selbstständigkeit des sittlichen Urtheils mit einer Selbst- ständigkeit des Willens verwechseln; die Zurechnung, welche den Willen treffen sollte, über ihr Ziel hinaus- treiben, und sich dabey in müssige Fragen nach dem Ursprunge des Willens verlieren; endlich das Urtheil mit dem Gebote zusammenschmelzend sich eine prakti- sche Vernunft erfinden, deren Verhältniss zu der theore- tischen sie in die unnützesten Streitigkeiten verwickelt. Das Gewebe dieser Täuschungen aufzulösen, ist zum Theil die Sache der praktischen Philosophie, und in so fern muss ich mich auf eine frühere Schrift beziehen *); damit aber auch die Psychologie von ihrer Seite zu Hülfe komme, muss erst sie selbst mit vorurtheilsfreyem Geiste bearbeitet werden.
Abweichen muss ich endlich von allen Denen, welche die innern Thatsachen zu erklären glauben, indem sie sie classificiren, und nun für jede Classe von Thatsa-
*) Nämlich auf meine allgemeine praktische Philoso- phie.
seine Richtigkeit, so würde dabey noch vergessen oder verkannt seyn, daſs alle Anschauung, innere sowohl als äuſsere, um sichere Ueberzeugung zu begründen, erst die Probe machen muſs, ob sie sich im Denken halten könne? oder ob sie ein bloſser Stoff für Kritik und Umarbeitung werde, sobald der Denker sie ernstlich angreift? Des leichten Beyspiels, welches die Astronomie uns liefert, indem sie die scheinbaren Bewegungen auf die wahren zurückführt, ist kaum nöthig, zu erwähnen.
Um nichts besser werde ich zusammenstimmen mit Denen, welche durch das Dogma von der sogenannten transscendentalen Freyheit des Willens einen gro- ſsen Theil der psychologischen Thatsachen der allgemei- nen Gesetzmäſsigkeit entweder geradezu entziehen, oder doch diese Gesetzmäſsigkeit für bloſse Erscheinung er- klären. Diese häufen irrige Ansichten der praktischen Philosophie auf psychologische Vorurtheile; indem sie die Selbstständigkeit des sittlichen Urtheils mit einer Selbst- ständigkeit des Willens verwechseln; die Zurechnung, welche den Willen treffen sollte, über ihr Ziel hinaus- treiben, und sich dabey in müssige Fragen nach dem Ursprunge des Willens verlieren; endlich das Urtheil mit dem Gebote zusammenschmelzend sich eine prakti- sche Vernunft erfinden, deren Verhältniſs zu der theore- tischen sie in die unnützesten Streitigkeiten verwickelt. Das Gewebe dieser Täuschungen aufzulösen, ist zum Theil die Sache der praktischen Philosophie, und in so fern muſs ich mich auf eine frühere Schrift beziehen *); damit aber auch die Psychologie von ihrer Seite zu Hülfe komme, muſs erst sie selbst mit vorurtheilsfreyem Geiste bearbeitet werden.
Abweichen muſs ich endlich von allen Denen, welche die innern Thatsachen zu erklären glauben, indem sie sie classificiren, und nun für jede Classe von Thatsa-
*) Nämlich auf meine allgemeine praktische Philoso- phie.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0022"n="2"/>
seine Richtigkeit, so würde dabey noch vergessen oder<lb/>
verkannt seyn, daſs alle Anschauung, innere sowohl als<lb/>
äuſsere, um sichere Ueberzeugung zu begründen, erst die<lb/>
Probe machen muſs, ob sie sich im Denken halten könne?<lb/>
oder ob sie ein bloſser Stoff für Kritik und Umarbeitung<lb/>
werde, sobald der Denker sie ernstlich angreift? Des<lb/>
leichten Beyspiels, welches die Astronomie uns liefert,<lb/>
indem sie die scheinbaren Bewegungen auf die wahren<lb/>
zurückführt, ist kaum nöthig, zu erwähnen.</p><lb/><p>Um nichts besser werde ich zusammenstimmen mit<lb/>
Denen, welche durch das Dogma von der sogenannten<lb/><hirendition="#g">transscendentalen</hi> Freyheit des Willens einen gro-<lb/>ſsen Theil der psychologischen Thatsachen der allgemei-<lb/>
nen Gesetzmäſsigkeit entweder geradezu entziehen, oder<lb/>
doch diese Gesetzmäſsigkeit für bloſse Erscheinung er-<lb/>
klären. Diese häufen irrige Ansichten der praktischen<lb/>
Philosophie auf psychologische Vorurtheile; indem sie die<lb/>
Selbstständigkeit des sittlichen Urtheils mit einer Selbst-<lb/>
ständigkeit des Willens verwechseln; die Zurechnung,<lb/>
welche den Willen treffen sollte, über ihr Ziel hinaus-<lb/>
treiben, und sich dabey in müssige Fragen nach dem<lb/><hirendition="#g">Ursprunge</hi> des Willens verlieren; endlich das Urtheil<lb/>
mit dem Gebote zusammenschmelzend sich eine prakti-<lb/>
sche Vernunft erfinden, deren Verhältniſs zu der theore-<lb/>
tischen sie in die unnützesten Streitigkeiten verwickelt.<lb/>
Das Gewebe dieser Täuschungen aufzulösen, ist zum<lb/>
Theil die Sache der praktischen Philosophie, und in so<lb/>
fern muſs ich mich auf eine frühere Schrift beziehen <noteplace="foot"n="*)">Nämlich auf meine <hirendition="#g">allgemeine praktische Philoso-<lb/>
phie</hi>.</note>;<lb/>
damit aber auch die Psychologie von ihrer Seite zu Hülfe<lb/>
komme, muſs erst sie selbst mit vorurtheilsfreyem Geiste<lb/>
bearbeitet werden.</p><lb/><p>Abweichen muſs ich endlich von allen Denen, welche<lb/>
die innern Thatsachen zu erklären glauben, indem sie<lb/>
sie classificiren, und nun für jede Classe von Thatsa-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[2/0022]
seine Richtigkeit, so würde dabey noch vergessen oder
verkannt seyn, daſs alle Anschauung, innere sowohl als
äuſsere, um sichere Ueberzeugung zu begründen, erst die
Probe machen muſs, ob sie sich im Denken halten könne?
oder ob sie ein bloſser Stoff für Kritik und Umarbeitung
werde, sobald der Denker sie ernstlich angreift? Des
leichten Beyspiels, welches die Astronomie uns liefert,
indem sie die scheinbaren Bewegungen auf die wahren
zurückführt, ist kaum nöthig, zu erwähnen.
Um nichts besser werde ich zusammenstimmen mit
Denen, welche durch das Dogma von der sogenannten
transscendentalen Freyheit des Willens einen gro-
ſsen Theil der psychologischen Thatsachen der allgemei-
nen Gesetzmäſsigkeit entweder geradezu entziehen, oder
doch diese Gesetzmäſsigkeit für bloſse Erscheinung er-
klären. Diese häufen irrige Ansichten der praktischen
Philosophie auf psychologische Vorurtheile; indem sie die
Selbstständigkeit des sittlichen Urtheils mit einer Selbst-
ständigkeit des Willens verwechseln; die Zurechnung,
welche den Willen treffen sollte, über ihr Ziel hinaus-
treiben, und sich dabey in müssige Fragen nach dem
Ursprunge des Willens verlieren; endlich das Urtheil
mit dem Gebote zusammenschmelzend sich eine prakti-
sche Vernunft erfinden, deren Verhältniſs zu der theore-
tischen sie in die unnützesten Streitigkeiten verwickelt.
Das Gewebe dieser Täuschungen aufzulösen, ist zum
Theil die Sache der praktischen Philosophie, und in so
fern muſs ich mich auf eine frühere Schrift beziehen *);
damit aber auch die Psychologie von ihrer Seite zu Hülfe
komme, muſs erst sie selbst mit vorurtheilsfreyem Geiste
bearbeitet werden.
Abweichen muſs ich endlich von allen Denen, welche
die innern Thatsachen zu erklären glauben, indem sie
sie classificiren, und nun für jede Classe von Thatsa-
*) Nämlich auf meine allgemeine praktische Philoso-
phie.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/22>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.