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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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mehr einräumen als ihm zukommt. Er muss die noth-
wendige Bewegung seines Denkens nicht als einen vor-
übergehenden Wechsel von Gedanken selber durchlaufen,
sondern jeden Schritt in dieser nothwendigen Bewegung
als ein Vestes und Unveränderliches sich einprägen;
gleichsam wie eine Reihe von historischen Gemälden, de-
ren jedes einen Moment des Handelns fixirt, so dass alle
zusammen auch die sämmtlichen Puncte des Uebergangs,
woraus die ganze Begebenheit besteht, zur beständigen
Anschauung aufbewahren. Dieses Stehen mitten im noth-
wendigen Wechsel ist allerdings schwer, weil alle Puncte
des Wechsels von der Art sind, dass man auf ihnen
nicht stehen bleiben kann. Aber gerade dieses: Nicht
stehen bleiben können
, hat der Metaphysiker ein- für
allemal darzustellen, so dass er den Process des Denkens,
wodurch ihm seine Resultate gewiss wurden, in jedem Au-
genblick erneuern könne. Wem der Kopf leicht schwin-
delt, der kann die metaphysischen Steige nicht gehn;
wer, um den Schwindel zu vermeiden, mit verschlossenen
Augen herübergehn will, der findet die Steige nicht, und
nur in seiner Einbildung kommt er hinüber.

3) Ist endlich ein Punct erreicht, wo man stehen
bleiben kann, so folgt daraus nicht, dass man hier lange
stehen und ausruhen müsse. Die Auflösung eines meta-
physischen Problems zeigt unmittelbar noch nichts, als
nur eine allgemeine Bedingung der Denkbarkeit des auf-
gestellten Begriffes; wer mehr verlangt, der muss weiter
fort arbeiten. Er muss nicht bloss seine Kräfte, sondern
auch seine Ueberlegung sammeln für eine, vielleicht völ-
lig veränderte, Art des Fortschreitens, die ganz neue
Vorübungen erfordern kann. -- Im Allgemeinen ergeben
sich aus metaphysischen Auflösungen sehr bald mathema-
tische Probleme; denn alle Erscheinungen sind Quanta;
alles, was als Wirkung von Kräften erscheint, hat Ge-
setze, die an ein Mehr und Weniger in diesen Kräften
gebunden sind; daher die metaphysischen Principien un-
mittelbar gar nichts bestimmtes in der Erscheinungswelt

er-

mehr einräumen als ihm zukommt. Er muſs die noth-
wendige Bewegung seines Denkens nicht als einen vor-
übergehenden Wechsel von Gedanken selber durchlaufen,
sondern jeden Schritt in dieser nothwendigen Bewegung
als ein Vestes und Unveränderliches sich einprägen;
gleichsam wie eine Reihe von historischen Gemälden, de-
ren jedes einen Moment des Handelns fixirt, so daſs alle
zusammen auch die sämmtlichen Puncte des Uebergangs,
woraus die ganze Begebenheit besteht, zur beständigen
Anschauung aufbewahren. Dieses Stehen mitten im noth-
wendigen Wechsel ist allerdings schwer, weil alle Puncte
des Wechsels von der Art sind, daſs man auf ihnen
nicht stehen bleiben kann. Aber gerade dieses: Nicht
stehen bleiben können
, hat der Metaphysiker ein- für
allemal darzustellen, so daſs er den Proceſs des Denkens,
wodurch ihm seine Resultate gewiſs wurden, in jedem Au-
genblick erneuern könne. Wem der Kopf leicht schwin-
delt, der kann die metaphysischen Steige nicht gehn;
wer, um den Schwindel zu vermeiden, mit verschlossenen
Augen herübergehn will, der findet die Steige nicht, und
nur in seiner Einbildung kommt er hinüber.

3) Ist endlich ein Punct erreicht, wo man stehen
bleiben kann, so folgt daraus nicht, daſs man hier lange
stehen und ausruhen müsse. Die Auflösung eines meta-
physischen Problems zeigt unmittelbar noch nichts, als
nur eine allgemeine Bedingung der Denkbarkeit des auf-
gestellten Begriffes; wer mehr verlangt, der muſs weiter
fort arbeiten. Er muſs nicht bloſs seine Kräfte, sondern
auch seine Ueberlegung sammeln für eine, vielleicht völ-
lig veränderte, Art des Fortschreitens, die ganz neue
Vorübungen erfordern kann. — Im Allgemeinen ergeben
sich aus metaphysischen Auflösungen sehr bald mathema-
tische Probleme; denn alle Erscheinungen sind Quanta;
alles, was als Wirkung von Kräften erscheint, hat Ge-
setze, die an ein Mehr und Weniger in diesen Kräften
gebunden sind; daher die metaphysischen Principien un-
mittelbar gar nichts bestimmtes in der Erscheinungswelt

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[144/0164] mehr einräumen als ihm zukommt. Er muſs die noth- wendige Bewegung seines Denkens nicht als einen vor- übergehenden Wechsel von Gedanken selber durchlaufen, sondern jeden Schritt in dieser nothwendigen Bewegung als ein Vestes und Unveränderliches sich einprägen; gleichsam wie eine Reihe von historischen Gemälden, de- ren jedes einen Moment des Handelns fixirt, so daſs alle zusammen auch die sämmtlichen Puncte des Uebergangs, woraus die ganze Begebenheit besteht, zur beständigen Anschauung aufbewahren. Dieses Stehen mitten im noth- wendigen Wechsel ist allerdings schwer, weil alle Puncte des Wechsels von der Art sind, daſs man auf ihnen nicht stehen bleiben kann. Aber gerade dieses: Nicht stehen bleiben können, hat der Metaphysiker ein- für allemal darzustellen, so daſs er den Proceſs des Denkens, wodurch ihm seine Resultate gewiſs wurden, in jedem Au- genblick erneuern könne. Wem der Kopf leicht schwin- delt, der kann die metaphysischen Steige nicht gehn; wer, um den Schwindel zu vermeiden, mit verschlossenen Augen herübergehn will, der findet die Steige nicht, und nur in seiner Einbildung kommt er hinüber. 3) Ist endlich ein Punct erreicht, wo man stehen bleiben kann, so folgt daraus nicht, daſs man hier lange stehen und ausruhen müsse. Die Auflösung eines meta- physischen Problems zeigt unmittelbar noch nichts, als nur eine allgemeine Bedingung der Denkbarkeit des auf- gestellten Begriffes; wer mehr verlangt, der muſs weiter fort arbeiten. Er muſs nicht bloſs seine Kräfte, sondern auch seine Ueberlegung sammeln für eine, vielleicht völ- lig veränderte, Art des Fortschreitens, die ganz neue Vorübungen erfordern kann. — Im Allgemeinen ergeben sich aus metaphysischen Auflösungen sehr bald mathema- tische Probleme; denn alle Erscheinungen sind Quanta; alles, was als Wirkung von Kräften erscheint, hat Ge- setze, die an ein Mehr und Weniger in diesen Kräften gebunden sind; daher die metaphysischen Principien un- mittelbar gar nichts bestimmtes in der Erscheinungswelt er-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/164>, abgerufen am 24.11.2024.