Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

des vorigen Jahrhunderts gefunden; und bin dadurch we-
nigstens für meine Person gegen unzählige nachmalige
Thorheiten gesichert worden.

Warum haben diese Ueberlegungen sich dem Herrn
Schelling nicht aufgedrungen; damals, als es für ihn
Zeit war, sie anzustellen und anzuerkennen? Weil sein
falscher Enthusiasmus ihnen Widerstand leistete. Er for-
derte, die Wahrheit solle sich wenigstens in Einem
Puncte unmittelbar offenbaren. Thäte sie dieses, so
müsste es allerdings im Ich geschehen
; dies ist
der einzige Punct, worin man Seyn und Wissen unmit-
telbar vereinigt glauben kann; und alsdann wäre die
älteste Lehre Schellings gerade die beste. Allein auf
ein Fordern und Sollen lässt sich die Wahrheit nicht ein;
sie erscheint nicht wie ein Dämon auf irgend eine Be-
schwörungsformel. Unmittelbar offenbart sie sich dem
Philosophen in gar keinem Puncte. Und was folgt dar-
aus? Vermuthlich dieses, dass es für uns gar keine
Wahrheit gebe! Wir wollen dies für einen Augenblick
annehmen. Unser vermeintes Wissen mag also ein blo-
sses Meinen seyn, das entweder gerade fort fliesst, von
hypothetischen oder irrigen Vordersätzen zu deren Con-
sequenzen, oder auch, falls Jemand gern von krummen
Linien reden will, -- unser Wissen mag hyperbolisch,
parabolisch, spiralförmig, oder endlich kreisförmig in
sich zurück
fliessen, nach Belieben! Wenn aber Je-
mand schon dahin gelangt, die Nullität des vermeinten
Wissens zu erkennen: so besitzt er gerade hierin den
Anfang des wahren Wissens; und er braucht jetzt nur
noch Geduld und Anstrengung, um dahin zu gelangen.
Denn eben die unumstössliche Gewissheit, dass es für uns
ein scheinbares Wissen giebt, und als Gegenstand des-
selben eine grosse und weite Erscheinungswelt in uns und
ausser uns: diese Gewissheit ist das vollkommen veste
Fundament, die eben so grosse und eben so breite Ba-
sis des wahren Wissens. Es ist nämlich nur nöthig, die
Bedingungen zu finden, unter welchen allein die Erschei-

des vorigen Jahrhunderts gefunden; und bin dadurch we-
nigstens für meine Person gegen unzählige nachmalige
Thorheiten gesichert worden.

Warum haben diese Ueberlegungen sich dem Herrn
Schelling nicht aufgedrungen; damals, als es für ihn
Zeit war, sie anzustellen und anzuerkennen? Weil sein
falscher Enthusiasmus ihnen Widerstand leistete. Er for-
derte, die Wahrheit solle sich wenigstens in Einem
Puncte unmittelbar offenbaren. Thäte sie dieses, so
müſste es allerdings im Ich geschehen
; dies ist
der einzige Punct, worin man Seyn und Wissen unmit-
telbar vereinigt glauben kann; und alsdann wäre die
älteste Lehre Schellings gerade die beste. Allein auf
ein Fordern und Sollen läſst sich die Wahrheit nicht ein;
sie erscheint nicht wie ein Dämon auf irgend eine Be-
schwörungsformel. Unmittelbar offenbart sie sich dem
Philosophen in gar keinem Puncte. Und was folgt dar-
aus? Vermuthlich dieses, daſs es für uns gar keine
Wahrheit gebe! Wir wollen dies für einen Augenblick
annehmen. Unser vermeintes Wissen mag also ein blo-
ſses Meinen seyn, das entweder gerade fort flieſst, von
hypothetischen oder irrigen Vordersätzen zu deren Con-
sequenzen, oder auch, falls Jemand gern von krummen
Linien reden will, — unser Wissen mag hyperbolisch,
parabolisch, spiralförmig, oder endlich kreisförmig in
sich zurück
flieſsen, nach Belieben! Wenn aber Je-
mand schon dahin gelangt, die Nullität des vermeinten
Wissens zu erkennen: so besitzt er gerade hierin den
Anfang des wahren Wissens; und er braucht jetzt nur
noch Geduld und Anstrengung, um dahin zu gelangen.
Denn eben die unumstöſsliche Gewiſsheit, daſs es für uns
ein scheinbares Wissen giebt, und als Gegenstand des-
selben eine groſse und weite Erscheinungswelt in uns und
auſser uns: diese Gewiſsheit ist das vollkommen veste
Fundament, die eben so groſse und eben so breite Ba-
sis des wahren Wissens. Es ist nämlich nur nöthig, die
Bedingungen zu finden, unter welchen allein die Erschei-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0136" n="116"/>
des vorigen Jahrhunderts gefunden; und bin dadurch we-<lb/>
nigstens für meine Person gegen unzählige nachmalige<lb/>
Thorheiten gesichert worden.</p><lb/>
              <p>Warum haben diese Ueberlegungen sich dem Herrn<lb/><hi rendition="#g">Schelling</hi> nicht aufgedrungen; damals, als es für ihn<lb/>
Zeit war, sie anzustellen und anzuerkennen? Weil sein<lb/>
falscher Enthusiasmus ihnen Widerstand leistete. Er for-<lb/>
derte, die Wahrheit solle sich wenigstens in Einem<lb/>
Puncte unmittelbar offenbaren. <hi rendition="#g">Thäte sie dieses, so<lb/>&#x017F;ste es allerdings im Ich geschehen</hi>; dies ist<lb/>
der einzige Punct, worin man Seyn und Wissen unmit-<lb/>
telbar vereinigt <hi rendition="#g">glauben</hi> kann; und alsdann wäre die<lb/><hi rendition="#g">älteste</hi> Lehre <hi rendition="#g">Schellings</hi> gerade die beste. Allein auf<lb/>
ein Fordern und Sollen lä&#x017F;st sich die Wahrheit nicht ein;<lb/>
sie erscheint nicht wie ein Dämon auf irgend eine Be-<lb/>
schwörungsformel. Unmittelbar offenbart sie sich dem<lb/>
Philosophen in gar keinem Puncte. Und was folgt dar-<lb/>
aus? Vermuthlich dieses, da&#x017F;s es für uns gar keine<lb/>
Wahrheit gebe! Wir wollen dies für einen Augenblick<lb/>
annehmen. Unser vermeintes Wissen mag also ein blo-<lb/>
&#x017F;ses Meinen seyn, das entweder <hi rendition="#g">gerade</hi> fort flie&#x017F;st, von<lb/>
hypothetischen oder irrigen Vordersätzen zu deren Con-<lb/>
sequenzen, oder auch, falls Jemand gern von krummen<lb/>
Linien reden will, &#x2014; unser Wissen mag hyperbolisch,<lb/>
parabolisch, spiralförmig, oder endlich <hi rendition="#g">kreisförmig in<lb/>
sich zurück</hi> flie&#x017F;sen, nach Belieben! Wenn aber Je-<lb/>
mand schon dahin gelangt, die Nullität des vermeinten<lb/>
Wissens zu erkennen: so besitzt er gerade hierin den<lb/>
Anfang des wahren Wissens; und er braucht jetzt nur<lb/>
noch Geduld und Anstrengung, um dahin zu gelangen.<lb/>
Denn eben die unumstö&#x017F;sliche Gewi&#x017F;sheit, da&#x017F;s es für uns<lb/>
ein scheinbares Wissen giebt, und als Gegenstand des-<lb/>
selben eine gro&#x017F;se und weite Erscheinungswelt in uns und<lb/>
au&#x017F;ser uns: diese Gewi&#x017F;sheit ist das vollkommen veste<lb/>
Fundament, die eben so gro&#x017F;se und eben so breite Ba-<lb/>
sis des wahren Wissens. Es ist nämlich nur nöthig, die<lb/>
Bedingungen zu finden, unter welchen allein die Erschei-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[116/0136] des vorigen Jahrhunderts gefunden; und bin dadurch we- nigstens für meine Person gegen unzählige nachmalige Thorheiten gesichert worden. Warum haben diese Ueberlegungen sich dem Herrn Schelling nicht aufgedrungen; damals, als es für ihn Zeit war, sie anzustellen und anzuerkennen? Weil sein falscher Enthusiasmus ihnen Widerstand leistete. Er for- derte, die Wahrheit solle sich wenigstens in Einem Puncte unmittelbar offenbaren. Thäte sie dieses, so müſste es allerdings im Ich geschehen; dies ist der einzige Punct, worin man Seyn und Wissen unmit- telbar vereinigt glauben kann; und alsdann wäre die älteste Lehre Schellings gerade die beste. Allein auf ein Fordern und Sollen läſst sich die Wahrheit nicht ein; sie erscheint nicht wie ein Dämon auf irgend eine Be- schwörungsformel. Unmittelbar offenbart sie sich dem Philosophen in gar keinem Puncte. Und was folgt dar- aus? Vermuthlich dieses, daſs es für uns gar keine Wahrheit gebe! Wir wollen dies für einen Augenblick annehmen. Unser vermeintes Wissen mag also ein blo- ſses Meinen seyn, das entweder gerade fort flieſst, von hypothetischen oder irrigen Vordersätzen zu deren Con- sequenzen, oder auch, falls Jemand gern von krummen Linien reden will, — unser Wissen mag hyperbolisch, parabolisch, spiralförmig, oder endlich kreisförmig in sich zurück flieſsen, nach Belieben! Wenn aber Je- mand schon dahin gelangt, die Nullität des vermeinten Wissens zu erkennen: so besitzt er gerade hierin den Anfang des wahren Wissens; und er braucht jetzt nur noch Geduld und Anstrengung, um dahin zu gelangen. Denn eben die unumstöſsliche Gewiſsheit, daſs es für uns ein scheinbares Wissen giebt, und als Gegenstand des- selben eine groſse und weite Erscheinungswelt in uns und auſser uns: diese Gewiſsheit ist das vollkommen veste Fundament, die eben so groſse und eben so breite Ba- sis des wahren Wissens. Es ist nämlich nur nöthig, die Bedingungen zu finden, unter welchen allein die Erschei-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/136
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/136>, abgerufen am 24.11.2024.