Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

"ges wechselseitiges (?) Verfliessen aller einzelnen
"Sätze in einander, ein Chaos seyn, in dem kein
"Element sich scheidet, oder --

"Es muss einen letzten Punct der Realität ge-
"ben" (warum nur einen letzten? Ist die Reali-
tät nicht in allen Puncten real?) "an dem alles
"hängt, von dem aller Bestand und alle Form un-
"seres Wissens ausgeht, der die Elemente scheidet,
"und jedem den Kreis" (wieder einen Kreis! Wun-
derbare Vorliebe für die Figur der Kreislinie!) "sei-
"ner fortgehenden Wirkung im Universum des
"Wissens beschreibt."

"Es muss etwas geben, in dem und durch wel-
"ches alles was ist, zum Daseyn, alles was ge-
"dacht
wird, zur Realität (!), und das Denken selbst
"zur Form der Einheit und Unwandelbarkeit gelangt.
"Dieses Etwas müsste das Vollendende im ganzen
"System des menschlichen Wissens" (des ewig un-
vollendeten
!) "seyn, es müsste die ganze Sphäre,
"die unser Wissen durchmisst, beschreiben, und
"überall, wo unser letztes Denken und Erkennen
"noch hinreicht, -- im ganzen kosmos unseres Wis-
"sens, -- als Urgrund aller Realität herrschen."

Wohin strebt dieser Wortpunk? Dahin, dass im
Ich
das Princip des Seyns und des Denkens zusammen
falle, dass es durch sein Denken sich selbst hervorbringe.
Eine Täuschung, die jetzt für Jedermann veraltet ist!
Dass das absolute Ich durchaus Nichts wissen würde, eben
weil es Sich wissen soll, und nur Sich wissen darf,
(um nicht ins Nicht-Ich zu verfallen) dieses Sich aber
eben nichts anderes seyn darf als nur sein Sich-Wis-
sen
, -- ein Wissen dessen Gegenstand bis ins Unend-
liche gesucht und nie gefunden wird; -- dass ferner das
absolute Ich, eben darum weil es nichts weiss, auch nichts
ist: diese höchst leichten Ueberlegungen konnten recht
füglich im Jahre 1795 angestellt werden; ich selbst habe
die ganze Entwickelung derselben in den letzten Jahren

H 2

„ges wechselseitiges (?) Verflieſsen aller einzelnen
„Sätze in einander, ein Chaos seyn, in dem kein
„Element sich scheidet, oder —

„Es muſs einen letzten Punct der Realität ge-
„ben“ (warum nur einen letzten? Ist die Reali-
tät nicht in allen Puncten real?) „an dem alles
„hängt, von dem aller Bestand und alle Form un-
„seres Wissens ausgeht, der die Elemente scheidet,
„und jedem den Kreis“ (wieder einen Kreis! Wun-
derbare Vorliebe für die Figur der Kreislinie!) „sei-
„ner fortgehenden Wirkung im Universum des
„Wissens beschreibt.“

„Es muſs etwas geben, in dem und durch wel-
„ches alles was ist, zum Daseyn, alles was ge-
„dacht
wird, zur Realität (!), und das Denken selbst
„zur Form der Einheit und Unwandelbarkeit gelangt.
„Dieses Etwas müſste das Vollendende im ganzen
„System des menschlichen Wissens“ (des ewig un-
vollendeten
!) „seyn, es müſste die ganze Sphäre,
„die unser Wissen durchmiſst, beschreiben, und
„überall, wo unser letztes Denken und Erkennen
„noch hinreicht, — im ganzen κοσμος unseres Wis-
„sens, — als Urgrund aller Realität herrschen.“

Wohin strebt dieser Wortpunk? Dahin, daſs im
Ich
das Princip des Seyns und des Denkens zusammen
falle, daſs es durch sein Denken sich selbst hervorbringe.
Eine Täuschung, die jetzt für Jedermann veraltet ist!
Daſs das absolute Ich durchaus Nichts wissen würde, eben
weil es Sich wissen soll, und nur Sich wissen darf,
(um nicht ins Nicht-Ich zu verfallen) dieses Sich aber
eben nichts anderes seyn darf als nur sein Sich-Wis-
sen
, — ein Wissen dessen Gegenstand bis ins Unend-
liche gesucht und nie gefunden wird; — daſs ferner das
absolute Ich, eben darum weil es nichts weiſs, auch nichts
ist: diese höchst leichten Ueberlegungen konnten recht
füglich im Jahre 1795 angestellt werden; ich selbst habe
die ganze Entwickelung derselben in den letzten Jahren

H 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0135" n="115"/>
&#x201E;ges wechselseitiges (?) Verflie&#x017F;sen aller einzelnen<lb/>
&#x201E;Sätze in einander, ein Chaos seyn, in dem kein<lb/>
&#x201E;Element sich scheidet, oder &#x2014;</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">&#x201E;Es mu&#x017F;s einen letzten Punct der Realität ge-<lb/>
&#x201E;ben&#x201C; (warum nur <hi rendition="#g">einen letzten</hi>? Ist die Reali-<lb/>
tät nicht in <hi rendition="#g">allen</hi> Puncten real?) &#x201E;an dem alles<lb/>
&#x201E;hängt, von dem aller Bestand und alle Form un-<lb/>
&#x201E;seres Wissens ausgeht, der die Elemente scheidet,<lb/>
&#x201E;und jedem den Kreis&#x201C; (wieder einen Kreis! Wun-<lb/>
derbare Vorliebe für die Figur der Kreislinie!) &#x201E;sei-<lb/>
&#x201E;ner <hi rendition="#g">fortgehenden</hi> Wirkung im Universum des<lb/>
&#x201E;Wissens beschreibt.&#x201C;</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">&#x201E;Es mu&#x017F;s etwas geben, in dem und durch wel-<lb/>
&#x201E;ches alles was ist, zum Daseyn, <hi rendition="#g">alles</hi> was <hi rendition="#g">ge-<lb/>
&#x201E;dacht</hi> wird, zur Realität (!), und das Denken selbst<lb/>
&#x201E;zur Form der Einheit und Unwandelbarkeit gelangt.<lb/>
&#x201E;Dieses Etwas mü&#x017F;ste das Vollendende im ganzen<lb/>
&#x201E;System des menschlichen Wissens&#x201C; (des ewig <hi rendition="#g">un-<lb/>
vollendeten</hi>!) &#x201E;seyn, es mü&#x017F;ste die ganze Sphäre,<lb/>
&#x201E;die unser Wissen durchmi&#x017F;st, beschreiben, und<lb/>
&#x201E;überall, wo unser letztes Denken und Erkennen<lb/>
&#x201E;noch hinreicht, &#x2014; im ganzen &#x03BA;&#x03BF;&#x03C3;&#x03BC;&#x03BF;&#x03C2; unseres Wis-<lb/>
&#x201E;sens, &#x2014; als Urgrund aller Realität herrschen.&#x201C;</hi> </p><lb/>
              <p>Wohin strebt dieser Wortpunk? Dahin, da&#x017F;s <hi rendition="#g">im<lb/>
Ich</hi> das Princip des Seyns und des Denkens zusammen<lb/>
falle, da&#x017F;s es durch sein Denken sich selbst hervorbringe.<lb/>
Eine Täuschung, die jetzt für Jedermann veraltet ist!<lb/>
Da&#x017F;s das absolute Ich durchaus Nichts wissen würde, eben<lb/>
weil es Sich wissen soll, und <hi rendition="#g">nur</hi> Sich wissen <hi rendition="#g">darf</hi>,<lb/>
(um nicht ins Nicht-Ich zu verfallen) dieses Sich aber<lb/>
eben nichts anderes seyn darf als nur sein <hi rendition="#g">Sich-Wis-<lb/>
sen</hi>, &#x2014; ein Wissen dessen Gegenstand bis ins Unend-<lb/>
liche gesucht und nie gefunden wird; &#x2014; da&#x017F;s ferner das<lb/>
absolute Ich, eben darum weil es nichts wei&#x017F;s, auch nichts<lb/>
ist: diese höchst leichten Ueberlegungen konnten recht<lb/>
füglich im Jahre 1795 angestellt werden; ich selbst habe<lb/>
die ganze Entwickelung derselben in den letzten Jahren<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H 2</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[115/0135] „ges wechselseitiges (?) Verflieſsen aller einzelnen „Sätze in einander, ein Chaos seyn, in dem kein „Element sich scheidet, oder — „Es muſs einen letzten Punct der Realität ge- „ben“ (warum nur einen letzten? Ist die Reali- tät nicht in allen Puncten real?) „an dem alles „hängt, von dem aller Bestand und alle Form un- „seres Wissens ausgeht, der die Elemente scheidet, „und jedem den Kreis“ (wieder einen Kreis! Wun- derbare Vorliebe für die Figur der Kreislinie!) „sei- „ner fortgehenden Wirkung im Universum des „Wissens beschreibt.“ „Es muſs etwas geben, in dem und durch wel- „ches alles was ist, zum Daseyn, alles was ge- „dacht wird, zur Realität (!), und das Denken selbst „zur Form der Einheit und Unwandelbarkeit gelangt. „Dieses Etwas müſste das Vollendende im ganzen „System des menschlichen Wissens“ (des ewig un- vollendeten!) „seyn, es müſste die ganze Sphäre, „die unser Wissen durchmiſst, beschreiben, und „überall, wo unser letztes Denken und Erkennen „noch hinreicht, — im ganzen κοσμος unseres Wis- „sens, — als Urgrund aller Realität herrschen.“ Wohin strebt dieser Wortpunk? Dahin, daſs im Ich das Princip des Seyns und des Denkens zusammen falle, daſs es durch sein Denken sich selbst hervorbringe. Eine Täuschung, die jetzt für Jedermann veraltet ist! Daſs das absolute Ich durchaus Nichts wissen würde, eben weil es Sich wissen soll, und nur Sich wissen darf, (um nicht ins Nicht-Ich zu verfallen) dieses Sich aber eben nichts anderes seyn darf als nur sein Sich-Wis- sen, — ein Wissen dessen Gegenstand bis ins Unend- liche gesucht und nie gefunden wird; — daſs ferner das absolute Ich, eben darum weil es nichts weiſs, auch nichts ist: diese höchst leichten Ueberlegungen konnten recht füglich im Jahre 1795 angestellt werden; ich selbst habe die ganze Entwickelung derselben in den letzten Jahren H 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/135
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/135>, abgerufen am 21.11.2024.