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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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Selbstanschauung erblicke (hier nämlich wird eine Ver-
legenheit gefühlt, welche von den, im nächsten Capitel
zu entwickelnden, Widersprüchen im Begriff des Ich
herrührt): so entsteht eine Neigung, das reine Ich mit
allerley Prädicaten zu begaben, welche die Quelle vieler
Fehlschlüsse (unter andern bey Fichte) geworden ist.

Hier nun ist der Ort, an Kants Behauptung zu er-
innern, das Ich sey eine rein intellectuelle Vorstellung,
aber zugleich die ärmste unter allen. Durch die erste
Hälfte der Behauptung wird zugegeben, dass man den
Begriff des Ich nicht durch innere Wahrnehmung be-
stimmen könne. Die zweyte Hälfte mag diejenigen war-
nen, welche glauben, den Inhalt der Vorstellung des rei-
nen Ich ohne Schwierigkeit angeben zu können. Uebri-
gens ist hier ein doppelter Fehler begangen; theils in der
übereilten Annahme eines reinen intellectuellen Vermö-
gens *); theils in dem Vergessen des grammatischen Be-
griffs des Ich, welcher durch den Gegensatz und die Ei-
nerleyheit des Objects und Subjects, der Speculation mehr
zu thun giebt, als zahllose andre, an Inhalte viel reichere
Begriffe.

Wer aber die vorhin bemerkten Schwierigkeiten,
sich von den individuellen Bestimmungen des Ich zu
trennen, wohl im Auge hat, und überdies bedenkt, dass
in dem speculativen Begriffe vom Ich jene Abstraction
vom Individuellen allerdings noch weiter getrieben wird,
als sie im gemeinen Bewusstseyn vorkommt: der kann
schon errathen, dass die Beziehungen der Ichheit auf die
Individualität sich nur verbergen, nichts destoweniger aber
vorhanden sind; und dass der Erfolg der Speculation kein
andrer seyn kann, als eben diese Beziehungen in ihrer
Nothwendigkeit zu offenbaren, womit denn das Grund-
vermögen der reinen Selbstauffassung verschwindet, und
der innere Sinn seine gehörige Erklärung erhält. So nun
ist es in der That. Die philosophische Bestimmung treibt

*) Krit. d. r. V., S. 423. ganz unten.

Selbstanschauung erblicke (hier nämlich wird eine Ver-
legenheit gefühlt, welche von den, im nächsten Capitel
zu entwickelnden, Widersprüchen im Begriff des Ich
herrührt): so entsteht eine Neigung, das reine Ich mit
allerley Prädicaten zu begaben, welche die Quelle vieler
Fehlschlüsse (unter andern bey Fichte) geworden ist.

Hier nun ist der Ort, an Kants Behauptung zu er-
innern, das Ich sey eine rein intellectuelle Vorstellung,
aber zugleich die ärmste unter allen. Durch die erste
Hälfte der Behauptung wird zugegeben, daſs man den
Begriff des Ich nicht durch innere Wahrnehmung be-
stimmen könne. Die zweyte Hälfte mag diejenigen war-
nen, welche glauben, den Inhalt der Vorstellung des rei-
nen Ich ohne Schwierigkeit angeben zu können. Uebri-
gens ist hier ein doppelter Fehler begangen; theils in der
übereilten Annahme eines reinen intellectuellen Vermö-
gens *); theils in dem Vergessen des grammatischen Be-
griffs des Ich, welcher durch den Gegensatz und die Ei-
nerleyheit des Objects und Subjects, der Speculation mehr
zu thun giebt, als zahllose andre, an Inhalte viel reichere
Begriffe.

Wer aber die vorhin bemerkten Schwierigkeiten,
sich von den individuellen Bestimmungen des Ich zu
trennen, wohl im Auge hat, und überdies bedenkt, daſs
in dem speculativen Begriffe vom Ich jene Abstraction
vom Individuellen allerdings noch weiter getrieben wird,
als sie im gemeinen Bewuſstseyn vorkommt: der kann
schon errathen, daſs die Beziehungen der Ichheit auf die
Individualität sich nur verbergen, nichts destoweniger aber
vorhanden sind; und daſs der Erfolg der Speculation kein
andrer seyn kann, als eben diese Beziehungen in ihrer
Nothwendigkeit zu offenbaren, womit denn das Grund-
vermögen der reinen Selbstauffassung verschwindet, und
der innere Sinn seine gehörige Erklärung erhält. So nun
ist es in der That. Die philosophische Bestimmung treibt

*) Krit. d. r. V., S. 423. ganz unten.
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[92/0112] Selbstanschauung erblicke (hier nämlich wird eine Ver- legenheit gefühlt, welche von den, im nächsten Capitel zu entwickelnden, Widersprüchen im Begriff des Ich herrührt): so entsteht eine Neigung, das reine Ich mit allerley Prädicaten zu begaben, welche die Quelle vieler Fehlschlüsse (unter andern bey Fichte) geworden ist. Hier nun ist der Ort, an Kants Behauptung zu er- innern, das Ich sey eine rein intellectuelle Vorstellung, aber zugleich die ärmste unter allen. Durch die erste Hälfte der Behauptung wird zugegeben, daſs man den Begriff des Ich nicht durch innere Wahrnehmung be- stimmen könne. Die zweyte Hälfte mag diejenigen war- nen, welche glauben, den Inhalt der Vorstellung des rei- nen Ich ohne Schwierigkeit angeben zu können. Uebri- gens ist hier ein doppelter Fehler begangen; theils in der übereilten Annahme eines reinen intellectuellen Vermö- gens *); theils in dem Vergessen des grammatischen Be- griffs des Ich, welcher durch den Gegensatz und die Ei- nerleyheit des Objects und Subjects, der Speculation mehr zu thun giebt, als zahllose andre, an Inhalte viel reichere Begriffe. Wer aber die vorhin bemerkten Schwierigkeiten, sich von den individuellen Bestimmungen des Ich zu trennen, wohl im Auge hat, und überdies bedenkt, daſs in dem speculativen Begriffe vom Ich jene Abstraction vom Individuellen allerdings noch weiter getrieben wird, als sie im gemeinen Bewuſstseyn vorkommt: der kann schon errathen, daſs die Beziehungen der Ichheit auf die Individualität sich nur verbergen, nichts destoweniger aber vorhanden sind; und daſs der Erfolg der Speculation kein andrer seyn kann, als eben diese Beziehungen in ihrer Nothwendigkeit zu offenbaren, womit denn das Grund- vermögen der reinen Selbstauffassung verschwindet, und der innere Sinn seine gehörige Erklärung erhält. So nun ist es in der That. Die philosophische Bestimmung treibt *) Krit. d. r. V., S. 423. ganz unten.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/112>, abgerufen am 24.11.2024.