men können, als etwas unserer Persönlichkeit zufälliges betrachtet; da wir doch gerade nur unter diesen Um- ständen, und in Beziehung auf dieselben, unsre eigene Person kennen lernen? --
Gewiss würde diese Vorstellungsart den Sieg davon tragen: wenn es möglich wäre, sie in sich selbst zu vollenden. Aber
Erstlich: in keiner augenblicklichen Wahrnehmung finde ich Mich, auch nur als Individuum; vielmehr muss die Erinnerung zu Hülfe kommen. Ich setze mich als bekannt aus voriger Zeit in jedem neuen Moment vor- aus. Nun ist dieses als bekannt Vorausgesetzte eben so unbestimmt, wie eine Summe von halberloschenen Er- innerungen aus verschiedenen, zum Theil entfernten Zei- ten, nur immer seyn kann. Daraus würde folgen, dass ich nicht genau wüsste, Wen ich eigentlich meinte, falls ich von mir als Individuum redete.
Zweytens: die individuellen Bestimmungen meiner selbst sind ein Aggregat, welches allmählig angewachsen, und noch jetzt im Fortwachsen begriffen ist. Richtet sich die Ichheit nach diesem Aggregat: so wird sie un- aufhörlich verändert, und niemals vollendet. Aber im Selbstbewusstseyn sehen wir uns an als ein Bekanntes, Bestehendes, und schon Vorhandenes.
Drittens: ein Aggregat besitzt keine reale Einheit; es ist Vieles; von Mir aber rede ich als von Einem, und einem Realen.
Viertens: die ganze Summe meiner Vorstellungen, Begehrungen, und individuellen Zustände, würde keine Persönlichkeit bilden, wofern nicht das Subject vorhan- den wäre, welchem jene individuellen Bestimmungen zum innerlichen Schauspiele dienen.
Fünftens: für dieses Subject, für das Wissen um uns selbst, ist es zufällig, was als Gewusstes sich darbie- ten möge; darum abstrahirt man von den besondern Be- stimmungen des Gewussten, und fasst bloss das Verhält-
men können, als etwas unserer Persönlichkeit zufälliges betrachtet; da wir doch gerade nur unter diesen Um- ständen, und in Beziehung auf dieselben, unsre eigene Person kennen lernen? —
Gewiſs würde diese Vorstellungsart den Sieg davon tragen: wenn es möglich wäre, sie in sich selbst zu vollenden. Aber
Erstlich: in keiner augenblicklichen Wahrnehmung finde ich Mich, auch nur als Individuum; vielmehr muſs die Erinnerung zu Hülfe kommen. Ich setze mich als bekannt aus voriger Zeit in jedem neuen Moment vor- aus. Nun ist dieses als bekannt Vorausgesetzte eben so unbestimmt, wie eine Summe von halberloschenen Er- innerungen aus verschiedenen, zum Theil entfernten Zei- ten, nur immer seyn kann. Daraus würde folgen, daſs ich nicht genau wüſste, Wen ich eigentlich meinte, falls ich von mir als Individuum redete.
Zweytens: die individuellen Bestimmungen meiner selbst sind ein Aggregat, welches allmählig angewachsen, und noch jetzt im Fortwachsen begriffen ist. Richtet sich die Ichheit nach diesem Aggregat: so wird sie un- aufhörlich verändert, und niemals vollendet. Aber im Selbstbewuſstseyn sehen wir uns an als ein Bekanntes, Bestehendes, und schon Vorhandenes.
Drittens: ein Aggregat besitzt keine reale Einheit; es ist Vieles; von Mir aber rede ich als von Einem, und einem Realen.
Viertens: die ganze Summe meiner Vorstellungen, Begehrungen, und individuellen Zustände, würde keine Persönlichkeit bilden, wofern nicht das Subject vorhan- den wäre, welchem jene individuellen Bestimmungen zum innerlichen Schauspiele dienen.
Fünftens: für dieses Subject, für das Wissen um uns selbst, ist es zufällig, was als Gewuſstes sich darbie- ten möge; darum abstrahirt man von den besondern Be- stimmungen des Gewuſsten, und faſst bloſs das Verhält-
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men können, als etwas unserer Persönlichkeit zufälliges
betrachtet; da wir doch gerade nur unter diesen Um-
ständen, und in Beziehung auf dieselben, unsre eigene
Person kennen lernen? —
Gewiſs würde diese Vorstellungsart den Sieg davon
tragen: wenn es möglich wäre, sie in sich selbst zu
vollenden. Aber
Erstlich: in keiner augenblicklichen Wahrnehmung
finde ich Mich, auch nur als Individuum; vielmehr muſs
die Erinnerung zu Hülfe kommen. Ich setze mich als
bekannt aus voriger Zeit in jedem neuen Moment vor-
aus. Nun ist dieses als bekannt Vorausgesetzte eben so
unbestimmt, wie eine Summe von halberloschenen Er-
innerungen aus verschiedenen, zum Theil entfernten Zei-
ten, nur immer seyn kann. Daraus würde folgen, daſs
ich nicht genau wüſste, Wen ich eigentlich meinte, falls
ich von mir als Individuum redete.
Zweytens: die individuellen Bestimmungen meiner
selbst sind ein Aggregat, welches allmählig angewachsen,
und noch jetzt im Fortwachsen begriffen ist. Richtet
sich die Ichheit nach diesem Aggregat: so wird sie un-
aufhörlich verändert, und niemals vollendet. Aber im
Selbstbewuſstseyn sehen wir uns an als ein Bekanntes,
Bestehendes, und schon Vorhandenes.
Drittens: ein Aggregat besitzt keine reale Einheit;
es ist Vieles; von Mir aber rede ich als von Einem, und
einem Realen.
Viertens: die ganze Summe meiner Vorstellungen,
Begehrungen, und individuellen Zustände, würde keine
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den wäre, welchem jene individuellen Bestimmungen zum
innerlichen Schauspiele dienen.
Fünftens: für dieses Subject, für das Wissen um
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/109>, abgerufen am 21.11.2024.
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