Aber doch sieht man bey seinen Komposizionen deutlich allemal die Figuren, wo er sich ange- strengt, und die wirkliche Natur nachgeahmt hat. Er besaß einen gar guten Volksverstand, und dachte und empfand bey jeder Geschichte gleich das natürlichste; und seine Gestaltenphan- tasie, und sein kernhafter Styl, wo alles be- stimmt ist, machte das Ganze gleich lebendig.
Nach diesem allen sey ich mich doch genö- thigt, ein Gegenlied von dem Lob anzustimmen, was ich dem Pabst Julius gab. Es war ein Glück für Raphaelen, daß dieser seiner Kunst Arbeit verschafte, und vielleicht auch keins und das Gegentheil; denn dadurch ist er fast zum bloßen Kirchenmahler geworden. Das einzige große Werk außer seinen theologischen Gemähl- den und Porträten ist die Geschichte der Psyche in der Farnesina; und diese gehört, einzelne vortrefliche Figuren ausgenommen, nicht unter sein Bestes. Die Götter und Göttinnen darin
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Aber doch ſieht man bey ſeinen Kompoſizionen deutlich allemal die Figuren, wo er ſich ange- ſtrengt, und die wirkliche Natur nachgeahmt hat. Er beſaß einen gar guten Volksverſtand, und dachte und empfand bey jeder Geſchichte gleich das natuͤrlichſte; und ſeine Geſtaltenphan- taſie, und ſein kernhafter Styl, wo alles be- ſtimmt iſt, machte das Ganze gleich lebendig.
Nach dieſem allen ſey ich mich doch genoͤ- thigt, ein Gegenlied von dem Lob anzuſtimmen, was ich dem Pabſt Julius gab. Es war ein Gluͤck fuͤr Raphaelen, daß dieſer ſeiner Kunſt Arbeit verſchafte, und vielleicht auch keins und das Gegentheil; denn dadurch iſt er faſt zum bloßen Kirchenmahler geworden. Das einzige große Werk außer ſeinen theologiſchen Gemaͤhl- den und Portraͤten iſt die Geſchichte der Pſyche in der Farneſina; und dieſe gehoͤrt, einzelne vortrefliche Figuren ausgenommen, nicht unter ſein Beſtes. Die Goͤtter und Goͤttinnen darin
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Aber doch ſieht man bey ſeinen Kompoſizionen
deutlich allemal die Figuren, wo er ſich ange-
ſtrengt, und die wirkliche Natur nachgeahmt
hat. Er beſaß einen gar guten Volksverſtand,
und dachte und empfand bey jeder Geſchichte
gleich das natuͤrlichſte; und ſeine Geſtaltenphan-
taſie, und ſein kernhafter Styl, wo alles be-
ſtimmt iſt, machte das Ganze gleich lebendig.
Nach dieſem allen ſey ich mich doch genoͤ-
thigt, ein Gegenlied von dem Lob anzuſtimmen,
was ich dem Pabſt Julius gab. Es war ein
Gluͤck fuͤr Raphaelen, daß dieſer ſeiner Kunſt
Arbeit verſchafte, und vielleicht auch keins und
das Gegentheil; denn dadurch iſt er faſt zum
bloßen Kirchenmahler geworden. Das einzige
große Werk außer ſeinen theologiſchen Gemaͤhl-
den und Portraͤten iſt die Geſchichte der Pſyche
in der Farneſina; und dieſe gehoͤrt, einzelne
vortrefliche Figuren ausgenommen, nicht unter
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[Heinse, Wilhelm]: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Bd. 2. Lemgo, 1787, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heinse_ardinghello02_1787/44>, abgerufen am 18.12.2024.
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