Glanz verschwand alles, oder bekam Ansehen, Wesen, lenkte sich zu einem Ganzen."
"Sie kam mit ihrer Mutter. Beyde knie- ten erst vor dem Altare nieder, wo Messe gelesen werden sollte; und setzten sich hernach, sie mit abgeworfner Hülle vom Haupte. Im Knieen blickte sie einigemal gen Himmel und seufzte; ich bemerkte alles. Sie wurde mich hernach im Sitzen gleich gewahr, und maß mich mit einer Engelschönheit, ruhig dem Anschein nach, vom Wirbel bis zur Zehe, in tiefem Nachdenken. Was für Seele aus ihrem weitgewölbten schwar- zen Auge blickte, ist nicht zu sagen; und um ihre Lippen regten sich bange Gefühle, die jedoch in Lächeln übergingen. Ach, daß ich nicht gleich mit ihr sprechen durfte!"
"Ich saß nicht weit von ihr rechter Hand, schräg auf der Seite, und verwandte, so viel ich unbemerkt seyn konnte, kein Auge. Sie las
her-
F 4
Glanz verſchwand alles, oder bekam Anſehen, Weſen, lenkte ſich zu einem Ganzen.“
„Sie kam mit ihrer Mutter. Beyde knie- ten erſt vor dem Altare nieder, wo Meſſe geleſen werden ſollte; und ſetzten ſich hernach, ſie mit abgeworfner Huͤlle vom Haupte. Im Knieen blickte ſie einigemal gen Himmel und ſeufzte; ich bemerkte alles. Sie wurde mich hernach im Sitzen gleich gewahr, und maß mich mit einer Engelſchoͤnheit, ruhig dem Anſchein nach, vom Wirbel bis zur Zehe, in tiefem Nachdenken. Was fuͤr Seele aus ihrem weitgewoͤlbten ſchwar- zen Auge blickte, iſt nicht zu ſagen; und um ihre Lippen regten ſich bange Gefuͤhle, die jedoch in Laͤcheln uͤbergingen. Ach, daß ich nicht gleich mit ihr ſprechen durfte!“
„Ich ſaß nicht weit von ihr rechter Hand, ſchraͤg auf der Seite, und verwandte, ſo viel ich unbemerkt ſeyn konnte, kein Auge. Sie las
her-
F 4
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0093"n="87"/>
Glanz verſchwand alles, oder bekam Anſehen,<lb/>
Weſen, lenkte ſich zu einem Ganzen.“</p><lb/><p>„Sie kam mit ihrer Mutter. Beyde knie-<lb/>
ten erſt vor dem Altare nieder, wo Meſſe geleſen<lb/>
werden ſollte; und ſetzten ſich hernach, ſie mit<lb/>
abgeworfner Huͤlle vom Haupte. Im Knieen<lb/>
blickte ſie einigemal gen Himmel und ſeufzte;<lb/>
ich bemerkte alles. Sie wurde mich hernach im<lb/>
Sitzen gleich gewahr, und maß mich mit<lb/>
einer Engelſchoͤnheit, ruhig dem Anſchein nach,<lb/>
vom Wirbel bis zur Zehe, in tiefem Nachdenken.<lb/>
Was fuͤr Seele aus ihrem weitgewoͤlbten ſchwar-<lb/>
zen Auge blickte, iſt nicht zu ſagen; und um ihre<lb/>
Lippen regten ſich bange Gefuͤhle, die jedoch in<lb/>
Laͤcheln uͤbergingen. Ach, daß ich nicht gleich<lb/>
mit ihr ſprechen durfte!“</p><lb/><p>„Ich ſaß nicht weit von ihr rechter Hand,<lb/>ſchraͤg auf der Seite, und verwandte, ſo viel ich<lb/>
unbemerkt ſeyn konnte, kein Auge. Sie las<lb/><fwplace="bottom"type="sig">F 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">her-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[87/0093]
Glanz verſchwand alles, oder bekam Anſehen,
Weſen, lenkte ſich zu einem Ganzen.“
„Sie kam mit ihrer Mutter. Beyde knie-
ten erſt vor dem Altare nieder, wo Meſſe geleſen
werden ſollte; und ſetzten ſich hernach, ſie mit
abgeworfner Huͤlle vom Haupte. Im Knieen
blickte ſie einigemal gen Himmel und ſeufzte;
ich bemerkte alles. Sie wurde mich hernach im
Sitzen gleich gewahr, und maß mich mit
einer Engelſchoͤnheit, ruhig dem Anſchein nach,
vom Wirbel bis zur Zehe, in tiefem Nachdenken.
Was fuͤr Seele aus ihrem weitgewoͤlbten ſchwar-
zen Auge blickte, iſt nicht zu ſagen; und um ihre
Lippen regten ſich bange Gefuͤhle, die jedoch in
Laͤcheln uͤbergingen. Ach, daß ich nicht gleich
mit ihr ſprechen durfte!“
„Ich ſaß nicht weit von ihr rechter Hand,
ſchraͤg auf der Seite, und verwandte, ſo viel ich
unbemerkt ſeyn konnte, kein Auge. Sie las
her-
F 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Heinse, Wilhelm]: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Bd. 1. Lemgo, 1787, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heinse_ardinghello01_1787/93>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.