Unser Nachen wallte leicht mit vollgeschwell- tem Seegel über die nassen Pfade.
Es war ein heiter Wetter zu Anfang Oktobers, und einer meiner unvergeßlichen Tage. Sir- mio lag lieblich da in Strahlen und sonnte sich; und die unabsehliche Kette der Felsen dahinter, wie eine neue Welt, als ob sie bestimmt wäre, lauter Titanen zu tragen. Süßer röhtlichter Dunst bekleidete glänzend den östlichen Himmel, und die wollichten Wölkchen schwebten still um den lichten Raum des Aethers, worin entzückt in hohen Flügen die Alpenadler hingen.
Der See ist würklich einer der schönsten, die ich gesehen habe, so reizend sind dessen Ufer, und zugleich majestätisch und wild, mit so viel Abwechslung von Lokalfarben; und Licht und Schatten macht immer neue Scenen. Die Halbinsel Sirmio liegt in der That da, wie der Sitz einer Kalypso, um von da aus das Land zu
be-
G 3
Unſer Nachen wallte leicht mit vollgeſchwell- tem Seegel uͤber die naſſen Pfade.
Es war ein heiter Wetter zu Anfang Oktobers, und einer meiner unvergeßlichen Tage. Sir- mio lag lieblich da in Strahlen und ſonnte ſich; und die unabſehliche Kette der Felſen dahinter, wie eine neue Welt, als ob ſie beſtimmt waͤre, lauter Titanen zu tragen. Suͤßer roͤhtlichter Dunſt bekleidete glaͤnzend den oͤſtlichen Himmel, und die wollichten Woͤlkchen ſchwebten ſtill um den lichten Raum des Aethers, worin entzuͤckt in hohen Fluͤgen die Alpenadler hingen.
Der See iſt wuͤrklich einer der ſchoͤnſten, die ich geſehen habe, ſo reizend ſind deſſen Ufer, und zugleich majeſtaͤtiſch und wild, mit ſo viel Abwechslung von Lokalfarben; und Licht und Schatten macht immer neue Scenen. Die Halbinſel Sirmio liegt in der That da, wie der Sitz einer Kalypſo, um von da aus das Land zu
be-
G 3
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0107"n="101"/><p>Unſer Nachen wallte leicht mit vollgeſchwell-<lb/>
tem Seegel uͤber die naſſen Pfade.</p><lb/><p>Es war ein heiter Wetter zu Anfang Oktobers,<lb/>
und einer meiner unvergeßlichen Tage. <hirendition="#fr">Sir-<lb/>
mio</hi> lag lieblich da in Strahlen und ſonnte ſich;<lb/>
und die unabſehliche Kette der Felſen dahinter,<lb/>
wie eine neue Welt, als ob ſie beſtimmt waͤre,<lb/>
lauter Titanen zu tragen. Suͤßer roͤhtlichter<lb/>
Dunſt bekleidete glaͤnzend den oͤſtlichen Himmel,<lb/>
und die wollichten Woͤlkchen ſchwebten ſtill um<lb/>
den lichten Raum des Aethers, worin entzuͤckt<lb/>
in hohen Fluͤgen die Alpenadler hingen.</p><lb/><p>Der See iſt wuͤrklich einer der ſchoͤnſten,<lb/>
die ich geſehen habe, ſo reizend ſind deſſen Ufer,<lb/>
und zugleich majeſtaͤtiſch und wild, mit ſo viel<lb/>
Abwechslung von Lokalfarben; und Licht und<lb/>
Schatten macht immer neue Scenen. Die<lb/>
Halbinſel Sirmio liegt in der That da, wie der<lb/>
Sitz einer Kalypſo, um von da aus das Land zu<lb/><fwplace="bottom"type="sig">G 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">be-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[101/0107]
Unſer Nachen wallte leicht mit vollgeſchwell-
tem Seegel uͤber die naſſen Pfade.
Es war ein heiter Wetter zu Anfang Oktobers,
und einer meiner unvergeßlichen Tage. Sir-
mio lag lieblich da in Strahlen und ſonnte ſich;
und die unabſehliche Kette der Felſen dahinter,
wie eine neue Welt, als ob ſie beſtimmt waͤre,
lauter Titanen zu tragen. Suͤßer roͤhtlichter
Dunſt bekleidete glaͤnzend den oͤſtlichen Himmel,
und die wollichten Woͤlkchen ſchwebten ſtill um
den lichten Raum des Aethers, worin entzuͤckt
in hohen Fluͤgen die Alpenadler hingen.
Der See iſt wuͤrklich einer der ſchoͤnſten,
die ich geſehen habe, ſo reizend ſind deſſen Ufer,
und zugleich majeſtaͤtiſch und wild, mit ſo viel
Abwechslung von Lokalfarben; und Licht und
Schatten macht immer neue Scenen. Die
Halbinſel Sirmio liegt in der That da, wie der
Sitz einer Kalypſo, um von da aus das Land zu
be-
G 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Heinse, Wilhelm]: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Bd. 1. Lemgo, 1787, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heinse_ardinghello01_1787/107>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.