Sind die Berliner denn Christen? rief Sig¬ nora voller Verwundrung.
Es hat eine eigne Bewandtniß, mit ihrem Christenthum. Dieses fehlt ihnen im Grunde ganz und gar, und sie sind auch viel zu vernünf¬ tig, um es ernstlich auszuüben. Aber da sie wis¬ sen, daß das Christenthum im Staate nöthig ist, damit die Unterthanen hübsch demüthig gehorchen, und auch außerdem nicht zu viel gestohlen und ge¬ mordet wird, so suchen sie mit großer Beredsam¬ keit wenigstens ihre Nebenmenschen zum Christen¬ thume zu bekehren, sie suchen gleichsam Rempla¬ cants in einer Religion, deren Aufrechthaltung sie wünschen und deren strenge Ausübung ihnen selbst zu mühsam wird. In dieser Verlegenheit benutzen sie den Diensteifer der armen Juden, diese müssen jetzt für sie Christen werden, und da dieses Volk, für Geld und gute Worte alles aus sich machen läßt, so haben sich die Juden schon so ins Christenthum hineinexerzirt, daß sie ordent¬
Sind die Berliner denn Chriſten? rief Sig¬ nora voller Verwundrung.
Es hat eine eigne Bewandtniß, mit ihrem Chriſtenthum. Dieſes fehlt ihnen im Grunde ganz und gar, und ſie ſind auch viel zu vernuͤnf¬ tig, um es ernſtlich auszuuͤben. Aber da ſie wiſ¬ ſen, daß das Chriſtenthum im Staate noͤthig iſt, damit die Unterthanen huͤbſch demuͤthig gehorchen, und auch außerdem nicht zu viel geſtohlen und ge¬ mordet wird, ſo ſuchen ſie mit großer Beredſam¬ keit wenigſtens ihre Nebenmenſchen zum Chriſten¬ thume zu bekehren, ſie ſuchen gleichſam Rempla¬ çants in einer Religion, deren Aufrechthaltung ſie wuͤnſchen und deren ſtrenge Ausuͤbung ihnen ſelbſt zu muͤhſam wird. In dieſer Verlegenheit benutzen ſie den Dienſteifer der armen Juden, dieſe muͤſſen jetzt fuͤr ſie Chriſten werden, und da dieſes Volk, fuͤr Geld und gute Worte alles aus ſich machen laͤßt, ſo haben ſich die Juden ſchon ſo ins Chriſtenthum hineinexerzirt, daß ſie ordent¬
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Sind die Berliner denn Chriſten? rief Sig¬
nora voller Verwundrung.
Es hat eine eigne Bewandtniß, mit ihrem
Chriſtenthum. Dieſes fehlt ihnen im Grunde
ganz und gar, und ſie ſind auch viel zu vernuͤnf¬
tig, um es ernſtlich auszuuͤben. Aber da ſie wiſ¬
ſen, daß das Chriſtenthum im Staate noͤthig iſt,
damit die Unterthanen huͤbſch demuͤthig gehorchen,
und auch außerdem nicht zu viel geſtohlen und ge¬
mordet wird, ſo ſuchen ſie mit großer Beredſam¬
keit wenigſtens ihre Nebenmenſchen zum Chriſten¬
thume zu bekehren, ſie ſuchen gleichſam Rempla¬
çants in einer Religion, deren Aufrechthaltung
ſie wuͤnſchen und deren ſtrenge Ausuͤbung ihnen
ſelbſt zu muͤhſam wird. In dieſer Verlegenheit
benutzen ſie den Dienſteifer der armen Juden,
dieſe muͤſſen jetzt fuͤr ſie Chriſten werden, und da
dieſes Volk, fuͤr Geld und gute Worte alles aus
ſich machen laͤßt, ſo haben ſich die Juden ſchon
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Heine, Heinrich: Reisebilder. Nachträge. Hamburg, 1831, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder04_1831/109>, abgerufen am 24.11.2024.
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