Unbewußtheit des eignen Vermögens wundert er sich, wenn man ihm "ein gegenständliches Denken" zuschreibt, und indem er durch seine Selbstbiographie uns selbst eine kritische Bey¬ hülfe zum Beurtheilen seiner Werke geben will, liefert er doch keinen Maaßstab der Beurthei¬ lung an und für sich, sondern nur neue Facta, woraus man ihn beurtheilen kann, wie es ja natürlich ist, daß kein Vogel über sich selbst hin¬ auszufliegen vermag.
Spätere Zeiten werden, außer jenem Ver¬ mögen des plastischen Anschauens, Fühlens und Denkens, noch vieles in Goethe entdecken, wo¬ von wir jetzt keine Ahnung haben. Die Werke des Geistes sind wenig feststehend, aber die Kri¬ tik ist etwas wandelbares, sie geht hervor aus den Ansichten der Zeit, hat nur für diese ihre Bedeutung, und wenn sie nicht selbst kunst¬ werthlicher Art ist, wie z. B. die Schlegelsche, so geht sie mit ihrer Zeit zu Grabe. Jedes Zeitalter, wenn es neue Ideen bekömmt, be¬
Unbewußtheit des eignen Vermoͤgens wundert er ſich, wenn man ihm „ein gegenſtaͤndliches Denken“ zuſchreibt, und indem er durch ſeine Selbſtbiographie uns ſelbſt eine kritiſche Bey¬ huͤlfe zum Beurtheilen ſeiner Werke geben will, liefert er doch keinen Maaßſtab der Beurthei¬ lung an und fuͤr ſich, ſondern nur neue Facta, woraus man ihn beurtheilen kann, wie es ja natuͤrlich iſt, daß kein Vogel uͤber ſich ſelbſt hin¬ auszufliegen vermag.
Spaͤtere Zeiten werden, außer jenem Ver¬ moͤgen des plaſtiſchen Anſchauens, Fuͤhlens und Denkens, noch vieles in Goethe entdecken, wo¬ von wir jetzt keine Ahnung haben. Die Werke des Geiſtes ſind wenig feſtſtehend, aber die Kri¬ tik iſt etwas wandelbares, ſie geht hervor aus den Anſichten der Zeit, hat nur fuͤr dieſe ihre Bedeutung, und wenn ſie nicht ſelbſt kunſt¬ werthlicher Art iſt, wie z. B. die Schlegelſche‚ ſo geht ſie mit ihrer Zeit zu Grabe. Jedes Zeitalter, wenn es neue Ideen bekoͤmmt, be¬
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Unbewußtheit des eignen Vermoͤgens wundert
er ſich, wenn man ihm „ein gegenſtaͤndliches
Denken“ zuſchreibt, und indem er durch ſeine
Selbſtbiographie uns ſelbſt eine kritiſche Bey¬
huͤlfe zum Beurtheilen ſeiner Werke geben will,
liefert er doch keinen Maaßſtab der Beurthei¬
lung an und fuͤr ſich, ſondern nur neue Facta,
woraus man ihn beurtheilen kann, wie es ja
natuͤrlich iſt, daß kein Vogel uͤber ſich ſelbſt hin¬
auszufliegen vermag.
Spaͤtere Zeiten werden, außer jenem Ver¬
moͤgen des plaſtiſchen Anſchauens, Fuͤhlens und
Denkens, noch vieles in Goethe entdecken, wo¬
von wir jetzt keine Ahnung haben. Die Werke
des Geiſtes ſind wenig feſtſtehend, aber die Kri¬
tik iſt etwas wandelbares, ſie geht hervor aus
den Anſichten der Zeit, hat nur fuͤr dieſe ihre
Bedeutung, und wenn ſie nicht ſelbſt kunſt¬
werthlicher Art iſt, wie z. B. die Schlegelſche‚
ſo geht ſie mit ihrer Zeit zu Grabe. Jedes
Zeitalter, wenn es neue Ideen bekoͤmmt, be¬
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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827/72>, abgerufen am 25.11.2024.
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