die Leute schlichen schweigend nach dem Markte, und lasen den langen papiernen Anschlag auf der Thüre des Rathhauses. Es war ein trü¬ bes Wetter, und der dünne Schneider Kilian stand dennoch in seiner Nanquinjacke, die er sonst nur im Hause trug, und die blauwollnen Strümpfe hingen ihm herab, daß die nackten Beinchen betrübt hervorguckten, und seine schma¬ len Lippen bebten, während er das angeschla¬ gene Placat vor sich hinmurmelte. Ein alter pfälzischer Invalide las etwas lauter, und bey manchem Worte träufelte ihm eine klare Thräne in den weißen, ehrlichen Schnautzbart. Ich stand neben ihm und weinte mit, und frug ihn: warum wir weinten? Und da antwortete er: "der Kurfürst läßt sich bedanken." Und dann las er wieder, und bey den Worten "für die bewährte Unterthanstreue" "und entbinden Euch Eurer Pflichten" da weinte er noch stär¬ ker -- Es ist wunderlich anzusehen, wenn so ein alter Mann, mit verblichener Uniform und
die Leute ſchlichen ſchweigend nach dem Markte, und laſen den langen papiernen Anſchlag auf der Thuͤre des Rathhauſes. Es war ein truͤ¬ bes Wetter, und der duͤnne Schneider Kilian ſtand dennoch in ſeiner Nanquinjacke, die er ſonſt nur im Hauſe trug, und die blauwollnen Struͤmpfe hingen ihm herab, daß die nackten Beinchen betruͤbt hervorguckten, und ſeine ſchma¬ len Lippen bebten, waͤhrend er das angeſchla¬ gene Placat vor ſich hinmurmelte. Ein alter pfaͤlziſcher Invalide las etwas lauter, und bey manchem Worte traͤufelte ihm eine klare Thraͤne in den weißen, ehrlichen Schnautzbart. Ich ſtand neben ihm und weinte mit, und frug ihn: warum wir weinten? Und da antwortete er: „der Kurfuͤrſt laͤßt ſich bedanken.“ Und dann las er wieder, und bey den Worten “fuͤr die bewaͤhrte Unterthanstreue“ „und entbinden Euch Eurer Pflichten“ da weinte er noch ſtaͤr¬ ker — Es iſt wunderlich anzuſehen, wenn ſo ein alter Mann, mit verblichener Uniform und
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die Leute ſchlichen ſchweigend nach dem Markte,
und laſen den langen papiernen Anſchlag auf
der Thuͤre des Rathhauſes. Es war ein truͤ¬
bes Wetter, und der duͤnne Schneider Kilian
ſtand dennoch in ſeiner Nanquinjacke, die er
ſonſt nur im Hauſe trug, und die blauwollnen
Struͤmpfe hingen ihm herab, daß die nackten
Beinchen betruͤbt hervorguckten, und ſeine ſchma¬
len Lippen bebten, waͤhrend er das angeſchla¬
gene Placat vor ſich hinmurmelte. Ein alter
pfaͤlziſcher Invalide las etwas lauter, und bey
manchem Worte traͤufelte ihm eine klare Thraͤne
in den weißen, ehrlichen Schnautzbart. Ich
ſtand neben ihm und weinte mit, und frug
ihn: warum wir weinten? Und da antwortete
er: „der Kurfuͤrſt laͤßt ſich bedanken.“ Und
dann las er wieder, und bey den Worten “fuͤr
die bewaͤhrte Unterthanstreue“ „und entbinden
Euch Eurer Pflichten“ da weinte er noch ſtaͤr¬
ker — Es iſt wunderlich anzuſehen, wenn ſo
ein alter Mann, mit verblichener Uniform und
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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827/181>, abgerufen am 25.11.2024.
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