an so seltsam, so heimlich, so räthselhaft trau¬ lich, als gehörte sie selbst zu den Mährchen, wovon sie eben erzählte. Sie war ein schlan¬ kes, blasses Mädchen, sie war todtkrank und sinnend, ihre Augen waren klar wie die Wahr¬ heit selbst, ihre Lippen fromm gewölbt, in den Zügen ihres Antlitzes lag eine große Geschichte, aber es war eine heilige Geschichte -- Etwa eine Liebeslegende? Ich weiß nicht, und ich hatte auch nie den Muth, sie zu fragen. Wenn ich sie lange ansah, wurde ich ruhig und hei¬ ter, es ward mir, als sey stiller Sonntag in meinem Herzen und die Engel darin hielten Gottesdienst.
In solchen guten Stunden erzählte ich ihr Geschichten aus meiner Kindheit, und sie hörte immer ernsthaft zu, und seltsam! wenn ich mich nicht mehr auf die Namen besinnen konnte, so erinnerte sie mich daran. Wenn ich sie als¬ dann mit Verwunderung fragte: woher sie die
an ſo ſeltſam, ſo heimlich, ſo raͤthſelhaft trau¬ lich, als gehoͤrte ſie ſelbſt zu den Maͤhrchen, wovon ſie eben erzaͤhlte. Sie war ein ſchlan¬ kes, blaſſes Maͤdchen, ſie war todtkrank und ſinnend, ihre Augen waren klar wie die Wahr¬ heit ſelbſt, ihre Lippen fromm gewoͤlbt, in den Zuͤgen ihres Antlitzes lag eine große Geſchichte, aber es war eine heilige Geſchichte — Etwa eine Liebeslegende? Ich weiß nicht, und ich hatte auch nie den Muth, ſie zu fragen. Wenn ich ſie lange anſah, wurde ich ruhig und hei¬ ter, es ward mir, als ſey ſtiller Sonntag in meinem Herzen und die Engel darin hielten Gottesdienſt.
In ſolchen guten Stunden erzaͤhlte ich ihr Geſchichten aus meiner Kindheit, und ſie hoͤrte immer ernſthaft zu, und ſeltſam! wenn ich mich nicht mehr auf die Namen beſinnen konnte, ſo erinnerte ſie mich daran. Wenn ich ſie als¬ dann mit Verwunderung fragte: woher ſie die
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an ſo ſeltſam, ſo heimlich, ſo raͤthſelhaft trau¬
lich, als gehoͤrte ſie ſelbſt zu den Maͤhrchen,
wovon ſie eben erzaͤhlte. Sie war ein ſchlan¬
kes, blaſſes Maͤdchen, ſie war todtkrank und
ſinnend, ihre Augen waren klar wie die Wahr¬
heit ſelbſt, ihre Lippen fromm gewoͤlbt, in den
Zuͤgen ihres Antlitzes lag eine große Geſchichte,
aber es war eine heilige Geſchichte — Etwa
eine Liebeslegende? Ich weiß nicht, und ich
hatte auch nie den Muth, ſie zu fragen. Wenn
ich ſie lange anſah, wurde ich ruhig und hei¬
ter, es ward mir, als ſey ſtiller Sonntag in
meinem Herzen und die Engel darin hielten
Gottesdienſt.
In ſolchen guten Stunden erzaͤhlte ich ihr
Geſchichten aus meiner Kindheit, und ſie hoͤrte
immer ernſthaft zu, und ſeltſam! wenn ich mich
nicht mehr auf die Namen beſinnen konnte,
ſo erinnerte ſie mich daran. Wenn ich ſie als¬
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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827/171>, abgerufen am 22.11.2024.
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