Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826.

Bild:
<< vorherige Seite

sich an welschem Stegreif-Unsinn und Kapaunen-
Gesang. O Sanct Sebaldus, was bist du jetzt
für ein armer Patron!

Derweilen wir sprachen, begann es zu dämmern;
die Luft wurde noch kälter, die Sonne neigte sich
tiefer, und die Thurmplatte füllte sich mit Studen¬
ten, Handwerksburschen und einigen ehrsamen Bür¬
gerleuten, sammt deren Frauen und Töchtern, die
Alle den Sonnen-Untergang sehen wollten. Es ist
ein erhabener Anblick, der die Seele zum Gebet
stimmt. Wohl eine Viertelstunde standen Alle ernst¬
haft schweigend, und sahen, wie der schöne Feuer¬
ball im Westen allmählig versank; die Gesichter
wurden vom Abendroth angestrahlt, die Hände fal¬
teten sich unwillkührlich; es war, als ständen wir,
eine stille Gemeinde, im Schiffe eines Riesendoms,
und der Priester erhöbe jetzt den Leib des Herrn,
und von der Orgel herab ergösse sich Palestrina's
ewiger Choral.

Während ich so in Andacht versunken stehe,
höre ich, daß neben mir Jemand ausruft: "Wie

ſich an welſchem Stegreif-Unſinn und Kapaunen-
Geſang. O Sanct Sebaldus, was biſt du jetzt
fuͤr ein armer Patron!

Derweilen wir ſprachen, begann es zu daͤmmern;
die Luft wurde noch kaͤlter, die Sonne neigte ſich
tiefer, und die Thurmplatte fuͤllte ſich mit Studen¬
ten, Handwerksburſchen und einigen ehrſamen Buͤr¬
gerleuten, ſammt deren Frauen und Toͤchtern, die
Alle den Sonnen-Untergang ſehen wollten. Es iſt
ein erhabener Anblick, der die Seele zum Gebet
ſtimmt. Wohl eine Viertelſtunde ſtanden Alle ernſt¬
haft ſchweigend, und ſahen, wie der ſchoͤne Feuer¬
ball im Weſten allmaͤhlig verſank; die Geſichter
wurden vom Abendroth angeſtrahlt, die Haͤnde fal¬
teten ſich unwillkuͤhrlich; es war, als ſtaͤnden wir,
eine ſtille Gemeinde, im Schiffe eines Rieſendoms,
und der Prieſter erhoͤbe jetzt den Leib des Herrn,
und von der Orgel herab ergoͤſſe ſich Paleſtrina's
ewiger Choral.

Waͤhrend ich ſo in Andacht verſunken ſtehe,
hoͤre ich, daß neben mir Jemand ausruft: „Wie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="poem" n="1">
        <p><pb facs="#f0222" n="210"/>
&#x017F;ich an wel&#x017F;chem Stegreif-Un&#x017F;inn und Kapaunen-<lb/>
Ge&#x017F;ang. O Sanct Sebaldus, was bi&#x017F;t du jetzt<lb/>
fu&#x0364;r ein armer Patron!</p><lb/>
        <p>Derweilen wir &#x017F;prachen, begann es zu da&#x0364;mmern;<lb/>
die Luft wurde noch ka&#x0364;lter, die Sonne neigte &#x017F;ich<lb/>
tiefer, und die Thurmplatte fu&#x0364;llte &#x017F;ich mit Studen¬<lb/>
ten, Handwerksbur&#x017F;chen und einigen ehr&#x017F;amen Bu&#x0364;<lb/>
gerleuten, &#x017F;ammt deren Frauen und To&#x0364;chtern, die<lb/>
Alle den Sonnen-Untergang &#x017F;ehen wollten. Es i&#x017F;t<lb/>
ein erhabener Anblick, der die Seele zum Gebet<lb/>
&#x017F;timmt. Wohl eine Viertel&#x017F;tunde &#x017F;tanden Alle ern&#x017F;<lb/>
haft &#x017F;chweigend, und &#x017F;ahen, wie der &#x017F;cho&#x0364;ne Feuer¬<lb/>
ball im We&#x017F;ten allma&#x0364;hlig ver&#x017F;ank; die Ge&#x017F;ichter<lb/>
wurden vom Abendroth ange&#x017F;trahlt, die Ha&#x0364;nde fal¬<lb/>
teten &#x017F;ich unwillku&#x0364;hrlich; es war, als &#x017F;ta&#x0364;nden wir,<lb/>
eine &#x017F;tille Gemeinde, im Schiffe eines Rie&#x017F;endoms,<lb/>
und der Prie&#x017F;ter erho&#x0364;be jetzt den Leib des Herrn,<lb/>
und von der Orgel herab ergo&#x0364;&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ich Pale&#x017F;trina's<lb/>
ewiger Choral.</p><lb/>
        <p>Wa&#x0364;hrend ich &#x017F;o in Andacht ver&#x017F;unken &#x017F;tehe,<lb/>
ho&#x0364;re ich, daß neben mir Jemand ausruft: &#x201E;Wie<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[210/0222] ſich an welſchem Stegreif-Unſinn und Kapaunen- Geſang. O Sanct Sebaldus, was biſt du jetzt fuͤr ein armer Patron! Derweilen wir ſprachen, begann es zu daͤmmern; die Luft wurde noch kaͤlter, die Sonne neigte ſich tiefer, und die Thurmplatte fuͤllte ſich mit Studen¬ ten, Handwerksburſchen und einigen ehrſamen Buͤr¬ gerleuten, ſammt deren Frauen und Toͤchtern, die Alle den Sonnen-Untergang ſehen wollten. Es iſt ein erhabener Anblick, der die Seele zum Gebet ſtimmt. Wohl eine Viertelſtunde ſtanden Alle ernſt¬ haft ſchweigend, und ſahen, wie der ſchoͤne Feuer¬ ball im Weſten allmaͤhlig verſank; die Geſichter wurden vom Abendroth angeſtrahlt, die Haͤnde fal¬ teten ſich unwillkuͤhrlich; es war, als ſtaͤnden wir, eine ſtille Gemeinde, im Schiffe eines Rieſendoms, und der Prieſter erhoͤbe jetzt den Leib des Herrn, und von der Orgel herab ergoͤſſe ſich Paleſtrina's ewiger Choral. Waͤhrend ich ſo in Andacht verſunken ſtehe, hoͤre ich, daß neben mir Jemand ausruft: „Wie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/222
Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/222>, abgerufen am 05.12.2024.