mich während des Lesens ein inneres Grauen durch¬ fröstelte. Auch erregen Gespenster-Erzählungen ein noch schauerlicheres Gefühl, wenn man sie auf der Reise liest, und zumal des Nachts, in einer Stadt, in einem Hause, in einem Zimmer, wo man noch nie gewesen. Wie viel Gräßliches mag sich schon zugetragen haben auf diesem Flecke, wo du eben liegst? so denkt man unwillkührlich. Ueberdies schien jetzt der Mond so zweideutig in's Zimmer herein, an der Wand bewegten sich allerley unberufene Schatten, und als ich mich im Bette aufrichtete, um hin zu sehen, erblickte ich --
Es giebt nichts Unheimlicheres, als wenn man, bey Mondschein, das eigne Gesicht zufällig im Spiegel sieht. In demselben Augenblick schlug eine schwerfällige, gähnende Glocke, und zwar so lang und langsam, daß ich nach dem zwölften Glockenschlage sicher glaubte, es seyen unterdessen volle vier und zwanzig Stunden verflossen, und es müßte wieder von vorn anfangen zwölf zu schlagen. Zwischen dem vorletzten und letzten
mich waͤhrend des Leſens ein inneres Grauen durch¬ froͤſtelte. Auch erregen Geſpenſter-Erzaͤhlungen ein noch ſchauerlicheres Gefuͤhl, wenn man ſie auf der Reiſe lieſt, und zumal des Nachts, in einer Stadt, in einem Hauſe, in einem Zimmer, wo man noch nie geweſen. Wie viel Graͤßliches mag ſich ſchon zugetragen haben auf dieſem Flecke, wo du eben liegſt? ſo denkt man unwillkuͤhrlich. Ueberdies ſchien jetzt der Mond ſo zweideutig in's Zimmer herein, an der Wand bewegten ſich allerley unberufene Schatten, und als ich mich im Bette aufrichtete, um hin zu ſehen, erblickte ich —
Es giebt nichts Unheimlicheres, als wenn man, bey Mondſchein, das eigne Geſicht zufaͤllig im Spiegel ſieht. In demſelben Augenblick ſchlug eine ſchwerfaͤllige, gaͤhnende Glocke, und zwar ſo lang und langſam, daß ich nach dem zwoͤlften Glockenſchlage ſicher glaubte, es ſeyen unterdeſſen volle vier und zwanzig Stunden verfloſſen, und es muͤßte wieder von vorn anfangen zwoͤlf zu ſchlagen. Zwiſchen dem vorletzten und letzten
<TEI><text><body><divtype="poem"n="1"><p><pbfacs="#f0187"n="175"/>
mich waͤhrend des Leſens ein inneres Grauen durch¬<lb/>
froͤſtelte. Auch erregen Geſpenſter-Erzaͤhlungen ein<lb/>
noch ſchauerlicheres Gefuͤhl, wenn man ſie auf der<lb/>
Reiſe lieſt, und zumal des Nachts, in einer Stadt,<lb/>
in einem Hauſe, in einem Zimmer, wo man noch<lb/>
nie geweſen. Wie viel Graͤßliches mag ſich ſchon<lb/>
zugetragen haben auf dieſem Flecke, wo du eben<lb/>
liegſt? ſo denkt man unwillkuͤhrlich. Ueberdies ſchien<lb/>
jetzt der Mond ſo zweideutig in's Zimmer herein,<lb/>
an der Wand bewegten ſich allerley unberufene<lb/>
Schatten, und als ich mich im Bette aufrichtete,<lb/>
um hin zu ſehen, erblickte ich —</p><lb/><p>Es giebt nichts Unheimlicheres, als wenn man,<lb/>
bey Mondſchein, das eigne Geſicht zufaͤllig im<lb/>
Spiegel ſieht. In demſelben Augenblick ſchlug<lb/>
eine ſchwerfaͤllige, gaͤhnende Glocke, und zwar ſo<lb/>
lang und langſam, daß ich nach dem zwoͤlften<lb/>
Glockenſchlage ſicher glaubte, es ſeyen unterdeſſen<lb/>
volle vier und zwanzig Stunden verfloſſen, und<lb/>
es muͤßte wieder von vorn anfangen zwoͤlf zu<lb/>ſchlagen. Zwiſchen dem vorletzten und letzten<lb/></p></div></body></text></TEI>
[175/0187]
mich waͤhrend des Leſens ein inneres Grauen durch¬
froͤſtelte. Auch erregen Geſpenſter-Erzaͤhlungen ein
noch ſchauerlicheres Gefuͤhl, wenn man ſie auf der
Reiſe lieſt, und zumal des Nachts, in einer Stadt,
in einem Hauſe, in einem Zimmer, wo man noch
nie geweſen. Wie viel Graͤßliches mag ſich ſchon
zugetragen haben auf dieſem Flecke, wo du eben
liegſt? ſo denkt man unwillkuͤhrlich. Ueberdies ſchien
jetzt der Mond ſo zweideutig in's Zimmer herein,
an der Wand bewegten ſich allerley unberufene
Schatten, und als ich mich im Bette aufrichtete,
um hin zu ſehen, erblickte ich —
Es giebt nichts Unheimlicheres, als wenn man,
bey Mondſchein, das eigne Geſicht zufaͤllig im
Spiegel ſieht. In demſelben Augenblick ſchlug
eine ſchwerfaͤllige, gaͤhnende Glocke, und zwar ſo
lang und langſam, daß ich nach dem zwoͤlften
Glockenſchlage ſicher glaubte, es ſeyen unterdeſſen
volle vier und zwanzig Stunden verfloſſen, und
es muͤßte wieder von vorn anfangen zwoͤlf zu
ſchlagen. Zwiſchen dem vorletzten und letzten
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/187>, abgerufen am 05.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.