Heine, Heinrich: Buch der Lieder. Hamburg, 1827.Als sey sie von Kristall, und seh' das Grausen, Das mit dem freud'gen Grüne zu bedecken Der Mai vergeblich strebt. Ich seh' die Todten, Sie liegen unten in den schmalen Särgen, Die Händ' gefaltet und die Augen offen, Weiß das Gewand und weiß das Angesicht, Und durch die gelben Lippen kriechen Würmer. Ich seh', der Sohn setzt sich mit seiner Buhle Zur Kurzweil nieder auf des Vaters Grab; Spottlieder singen rings die Nachtigallen; Die sanften Wiesenblümchen lachen hämisch, Der todte Vater regt sich in dem Grab', Und schmerzhaft zuckt die alte Mutter Erde. Du arme Erde, deine Schmerzen kenn' ich!
Ich seh' die Gluth in deinem Busen wühlen, Und deine tausend Adern seh' ich bluten, Und seh', wie deine Wunde klaffend aufreißt, Und wild hervorströmt Flamm' und Rauch und Blut. Ich seh' die Riesensöhn' der alten Nacht, Sie steigen aus der Erde off'nem Schlund, Und schwingen rothe Fackeln in den Händen, Und legen ihre Eisenleiter an, Und stürmen wild hinauf zur Himmelsveste; Und schwarze Zwerge klettern nach; und knisternd Zerstieben droben alle goldnen Sterne. Mit frecher Hand reißt man den goldnen Vorhang Als ſey ſie von Kriſtall, und ſeh' das Grauſen, Das mit dem freud'gen Grüne zu bedecken Der Mai vergeblich ſtrebt. Ich ſeh' die Todten, Sie liegen unten in den ſchmalen Särgen, Die Händ' gefaltet und die Augen offen, Weiß das Gewand und weiß das Angeſicht, Und durch die gelben Lippen kriechen Würmer. Ich ſeh', der Sohn ſetzt ſich mit ſeiner Buhle Zur Kurzweil nieder auf des Vaters Grab; Spottlieder ſingen rings die Nachtigallen; Die ſanften Wieſenblümchen lachen hämiſch, Der todte Vater regt ſich in dem Grab', Und ſchmerzhaft zuckt die alte Mutter Erde. Du arme Erde, deine Schmerzen kenn' ich!
Ich ſeh' die Gluth in deinem Buſen wühlen, Und deine tauſend Adern ſeh' ich bluten, Und ſeh', wie deine Wunde klaffend aufreißt, Und wild hervorſtrömt Flamm' und Rauch und Blut. Ich ſeh' die Rieſenſöhn' der alten Nacht, Sie ſteigen aus der Erde off'nem Schlund, Und ſchwingen rothe Fackeln in den Händen, Und legen ihre Eiſenleiter an, Und ſtürmen wild hinauf zur Himmelsveſte; Und ſchwarze Zwerge klettern nach; und kniſternd Zerſtieben droben alle goldnen Sterne. Mit frecher Hand reißt man den goldnen Vorhang <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0268" n="260"/> <lg n="4"> <l>Als ſey ſie von Kriſtall, und ſeh' das Grauſen,</l><lb/> <l>Das mit dem freud'gen Grüne zu bedecken</l><lb/> <l>Der Mai vergeblich ſtrebt. Ich ſeh' die Todten,</l><lb/> <l>Sie liegen unten in den ſchmalen Särgen,</l><lb/> <l>Die Händ' gefaltet und die Augen offen,</l><lb/> <l>Weiß das Gewand und weiß das Angeſicht,</l><lb/> <l>Und durch die gelben Lippen kriechen Würmer.</l><lb/> <l>Ich ſeh', der Sohn ſetzt ſich mit ſeiner Buhle</l><lb/> <l>Zur Kurzweil nieder auf des Vaters Grab;</l><lb/> <l>Spottlieder ſingen rings die Nachtigallen;</l><lb/> <l>Die ſanften Wieſenblümchen lachen hämiſch,</l><lb/> <l>Der todte Vater regt ſich in dem Grab',</l><lb/> <l>Und ſchmerzhaft zuckt die alte Mutter Erde.</l><lb/> </lg> <lg n="5"> <l>Du arme Erde, deine Schmerzen kenn' ich!</l><lb/> <l>Ich ſeh' die Gluth in deinem Buſen wühlen,</l><lb/> <l>Und deine tauſend Adern ſeh' ich bluten,</l><lb/> <l>Und ſeh', wie deine Wunde klaffend aufreißt,</l><lb/> <l>Und wild hervorſtrömt Flamm' und Rauch und Blut.</l><lb/> <l>Ich ſeh' die Rieſenſöhn' der alten Nacht,</l><lb/> <l>Sie ſteigen aus der Erde off'nem Schlund,</l><lb/> <l>Und ſchwingen rothe Fackeln in den Händen,</l><lb/> <l>Und legen ihre Eiſenleiter an,</l><lb/> <l>Und ſtürmen wild hinauf zur Himmelsveſte;</l><lb/> <l>Und ſchwarze Zwerge klettern nach; und kniſternd</l><lb/> <l>Zerſtieben droben alle goldnen Sterne.</l><lb/> <l>Mit frecher Hand reißt man den goldnen Vorhang</l><lb/> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [260/0268]
Als ſey ſie von Kriſtall, und ſeh' das Grauſen,
Das mit dem freud'gen Grüne zu bedecken
Der Mai vergeblich ſtrebt. Ich ſeh' die Todten,
Sie liegen unten in den ſchmalen Särgen,
Die Händ' gefaltet und die Augen offen,
Weiß das Gewand und weiß das Angeſicht,
Und durch die gelben Lippen kriechen Würmer.
Ich ſeh', der Sohn ſetzt ſich mit ſeiner Buhle
Zur Kurzweil nieder auf des Vaters Grab;
Spottlieder ſingen rings die Nachtigallen;
Die ſanften Wieſenblümchen lachen hämiſch,
Der todte Vater regt ſich in dem Grab',
Und ſchmerzhaft zuckt die alte Mutter Erde.
Du arme Erde, deine Schmerzen kenn' ich!
Ich ſeh' die Gluth in deinem Buſen wühlen,
Und deine tauſend Adern ſeh' ich bluten,
Und ſeh', wie deine Wunde klaffend aufreißt,
Und wild hervorſtrömt Flamm' und Rauch und Blut.
Ich ſeh' die Rieſenſöhn' der alten Nacht,
Sie ſteigen aus der Erde off'nem Schlund,
Und ſchwingen rothe Fackeln in den Händen,
Und legen ihre Eiſenleiter an,
Und ſtürmen wild hinauf zur Himmelsveſte;
Und ſchwarze Zwerge klettern nach; und kniſternd
Zerſtieben droben alle goldnen Sterne.
Mit frecher Hand reißt man den goldnen Vorhang
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Zitationshilfe: | Heine, Heinrich: Buch der Lieder. Hamburg, 1827, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_lieder_1827/268>, abgerufen am 22.07.2024. |