bendiges unmittelbares Werden; sie, der entäusserte Geist, ist in ihrem Daseyn nichts, als diese ewige Entäusserung ihres Bestehens und die Bewegung, die das Subject herstellt.
Die andere Seite aber seines Werdens, die Ge- schichte, ist das wissende sich vermittelnde Werden -- der an die Zeit entäusserte Geist; aber diese Entäusserung ist ebenso die Entäusserung ihrer selbst; das Negative ist das negative seiner selbst. Diss Werden stellt eine träge Bewegung und Aufeinanderfolge von Geistern dar, eine Gallerie von Bildern, deren jedes mit dem vollständigen Reichthume des Geistes ausgestattet, eben- darum sich so träge bewegt, weil das Selbst diesen ganzen Reichthum seiner Substanz zu durchdringen und zu verdauen hat. Indem seine Vollendung darin besteht, das was er ist, seine Substanz, vollkommen zu wissen, so ist diss Wissen sein Insichgehen, in welchem er sein Daseyn verlässt und seine Gestalt der Erinne- rung übergibt. In seinem Insichgehen ist er in der Nacht seines Selbstbewusstseyns versunken, sein ver- schwundnes Daseyn aber ist in ihr aufbewahrt, und diss aufgehobne Daseyn, -- das vorige, aber aus dem Wissen neugeborne, -- ist das neue Daseyn, eine neue Welt und Geistesgestalt. In ihr hat er ebenso unbe- fangen von vornen bey ihrer Unmittelbarkeit anzu- fangen, und sich von ihr auf wieder gross zu ziehen, als ob alles vorhergehende für ihn verloren wäre, und er aus der Erfahrung der frühern Geister nichts ge- lernt hätte. Aber die Er-Innerung hat sie aufbewahrt und ist das Innre und die in der That höhere Form
bendiges unmittelbares Werden; sie, der entäuſſerte Geiſt, iſt in ihrem Daſeyn nichts, als diese ewige Entäuſſerung ihres Beſtehens und die Bewegung, die das Subject herſtellt.
Die andere Seite aber seines Werdens, die Ge- schichte, iſt das wiſſende sich vermittelnde Werden — der an die Zeit entäuſſerte Geiſt; aber diese Entäuſſerung ist ebenso die Entäuſſerung ihrer selbſt; das Negative ist das negative seiner selbst. Diſs Werden ſtellt eine träge Bewegung und Aufeinanderfolge von Geiſtern dar, eine Gallerie von Bildern, deren jedes mit dem vollſtändigen Reichthume des Geiſtes ausgeſtattet, eben- darum sich so träge bewegt, weil das Selbſt dieſen ganzen Reichthum seiner Subſtanz zu durchdringen und zu verdauen hat. Indem seine Vollendung darin beſteht, das was er iſt, seine Subſtanz, vollkommen zu wiſſen, so ist diſs Wiſſen sein Inſichgehen, in welchem er sein Daseyn verläſst und seine Gestalt der Erinne- rung übergibt. In seinem Insichgehen ist er in der Nacht seines Selbſtbewuſstseyns versunken, sein ver- schwundnes Daseyn aber ist in ihr aufbewahrt, und diſs aufgehobne Daseyn, — das vorige, aber aus dem Wiſſen neugeborne, — ist das neue Daseyn, eine neue Welt und Geistesgestalt. In ihr hat er ebenso unbe- fangen von vornen bey ihrer Unmittelbarkeit anzu- fangen, und sich von ihr auf wieder groſs zu ziehen, als ob alles vorhergehende für ihn verloren wäre, und er aus der Erfahrung der frühern Geister nichts ge- lernt hätte. Aber die Er-Innerung hat sie aufbewahrt und ist das Innre und die in der That höhere Form
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bendiges unmittelbares Werden; sie, der entäuſſerte
Geiſt, iſt in ihrem Daſeyn nichts, als diese ewige
Entäuſſerung ihres Beſtehens und die Bewegung, die
das Subject herſtellt.
Die andere Seite aber seines Werdens, die Ge-
schichte, iſt das wiſſende sich vermittelnde Werden — der
an die Zeit entäuſſerte Geiſt; aber diese Entäuſſerung
ist ebenso die Entäuſſerung ihrer selbſt; das Negative
ist das negative seiner selbst. Diſs Werden ſtellt eine
träge Bewegung und Aufeinanderfolge von Geiſtern
dar, eine Gallerie von Bildern, deren jedes mit dem
vollſtändigen Reichthume des Geiſtes ausgeſtattet, eben-
darum sich so träge bewegt, weil das Selbſt dieſen
ganzen Reichthum seiner Subſtanz zu durchdringen
und zu verdauen hat. Indem seine Vollendung darin
beſteht, das was er iſt, seine Subſtanz, vollkommen zu
wiſſen, so ist diſs Wiſſen sein Inſichgehen, in welchem
er sein Daseyn verläſst und seine Gestalt der Erinne-
rung übergibt. In seinem Insichgehen ist er in der
Nacht seines Selbſtbewuſstseyns versunken, sein ver-
schwundnes Daseyn aber ist in ihr aufbewahrt, und
diſs aufgehobne Daseyn, — das vorige, aber aus dem
Wiſſen neugeborne, — ist das neue Daseyn, eine neue
Welt und Geistesgestalt. In ihr hat er ebenso unbe-
fangen von vornen bey ihrer Unmittelbarkeit anzu-
fangen, und sich von ihr auf wieder groſs zu ziehen,
als ob alles vorhergehende für ihn verloren wäre, und
er aus der Erfahrung der frühern Geister nichts ge-
lernt hätte. Aber die Er-Innerung hat sie aufbewahrt
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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Wissenschaft. Erster Theil: Die Phänomenologie des Geistes. Bamberg u. a., 1807, S. 764. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_phaenomenologie_1807/873>, abgerufen am 25.11.2024.
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