Realitäten, der allgemeine Betrug seiner selbst und der andern, und die Schamlosigkeit, diesen Betrug zu sagen, ist ebendarum die grösste Wahrheit. Diese Rede ist die Verrüktheit des Musikers, "der dreissig Arien, italienische, französische, tragische, komische, von aller Art Charakter, häuffte und vermischte; bald mit einem tiefen Basse stieg er bis in die Hölle, dann zog er die Kehle zusammen, und mit einem Fistelton zerriss er die Höhe der Lüffte, wechsels- weise rasend, besänftigt, gebieterisch und spöttisch." -- Dem ruhigen Bewusstseyn, das ehrlicherweise die Melodie des Guten und Wahren in die Gleichheit der Töne, d. h. in Eine Note setzt, erscheint diese Rede als "eine Faseley von Weisheit und Tollheit, als ein Gemische von eben soviel Geschik als Nie- drigkeit, von ebenso richtigen als falschen Ideen, von einer so völligen Verkehrtheit der Empfindung, so vollkommener Schändlichkeit, als gänzlicher Of- fenheit und Wahrheit. Es wird es nicht versagen können, in alle diese Töne einzugehen, und die ganze Scale der Gefühle von der tiefsten Verachtung und Verwerfung bis zur höchsten Bewunderung und Rüh- rung auf und nieder zu lauffen; in diese wird ein läch- erlicher Zug verschmolzen seyn, der ihnen ihre Na- tur benimmt;" jene werden an ihrer Offenheit selbst einen versöhnenden, an ihrer erschütternden Tiefe den allgewaltigen Zug haben, der den Geist sich selbst gibt.
Realitäten, der allgemeine Betrug seiner selbſt und der andern, und die Schamlosigkeit, dieſen Betrug zu ſagen, ist ebendarum die gröſste Wahrheit. Dieſe Rede ist die Verrüktheit des Musikers, „der dreiſsig Arien, italienische, französiſche, tragische, komische, von aller Art Charakter, häuffte und vermischte; bald mit einem tiefen Baſſe ſtieg er bis in die Hölle, dann zog er die Kehle zuſammen, und mit einem Fiſtelton zerriſs er die Höhe der Lüffte, wechſels- weiſe raſend, beſänftigt, gebieterisch und ſpöttisch.” — Dem ruhigen Bewuſstseyn, das ehrlicherweise die Melodie des Guten und Wahren in die Gleichheit der Töne, d. h. in Eine Note ſetzt, erſcheint dieſe Rede als „eine Faſeley von Weisheit und Tollheit, als ein Gemische von eben soviel Geſchik als Nie- drigkeit, von ebenso richtigen als falſchen Ideen, von einer so völligen Verkehrtheit der Empfindung, so vollkommener Schändlichkeit, als gänzlicher Of- fenheit und Wahrheit. Es wird es nicht versagen können, in alle diese Töne einzugehen, und die ganze Scale der Gefühle von der tiefſten Verachtung und Verwerfung bis zur höchſten Bewunderung und Rüh- rung auf und nieder zu lauffen; in dieſe wird ein läch- erlicher Zug verſchmolzen seyn, der ihnen ihre Na- tur benimmt;” jene werden an ihrer Offenheit selbſt einen verſöhnenden, an ihrer erschütternden Tiefe den allgewaltigen Zug haben, der den Geiſt sich selbſt gibt.
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Realitäten, der allgemeine Betrug seiner selbſt und
der andern, und die Schamlosigkeit, dieſen Betrug
zu ſagen, ist ebendarum die gröſste Wahrheit. Dieſe
Rede ist die Verrüktheit des Musikers, „der dreiſsig
Arien, italienische, französiſche, tragische, komische,
von aller Art Charakter, häuffte und vermischte;
bald mit einem tiefen Baſſe ſtieg er bis in die Hölle,
dann zog er die Kehle zuſammen, und mit einem
Fiſtelton zerriſs er die Höhe der Lüffte, wechſels-
weiſe raſend, beſänftigt, gebieterisch und ſpöttisch.” —
Dem ruhigen Bewuſstseyn, das ehrlicherweise die
Melodie des Guten und Wahren in die Gleichheit
der Töne, d. h. in Eine Note ſetzt, erſcheint dieſe
Rede als „eine Faſeley von Weisheit und Tollheit,
als ein Gemische von eben soviel Geſchik als Nie-
drigkeit, von ebenso richtigen als falſchen Ideen,
von einer so völligen Verkehrtheit der Empfindung,
so vollkommener Schändlichkeit, als gänzlicher Of-
fenheit und Wahrheit. Es wird es nicht versagen
können, in alle diese Töne einzugehen, und die ganze
Scale der Gefühle von der tiefſten Verachtung und
Verwerfung bis zur höchſten Bewunderung und Rüh-
rung auf und nieder zu lauffen; in dieſe wird ein läch-
erlicher Zug verſchmolzen seyn, der ihnen ihre Na-
tur benimmt;” jene werden an ihrer Offenheit selbſt
einen verſöhnenden, an ihrer erschütternden Tiefe
den allgewaltigen Zug haben, der den Geiſt sich
selbſt gibt.
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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Wissenschaft. Erster Theil: Die Phänomenologie des Geistes. Bamberg u. a., 1807, S. 469. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_phaenomenologie_1807/578>, abgerufen am 22.11.2024.
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