und diese doch von ihr selbst als unfähig, die Wahrheit zu fassen, aufgezeigt würde.
So wird auch durch die Bestimmung des Verhältnisses, das ein philosophisches Werk zu andern Bestrebungen über denselben Gegenstand zu haben glaubt, ein fremdartiges Interesse herein- gezogen, und das, worauf es bey der Erkennt- niss der Wahrheit ankommt, verdunkelt. So fest der Meynung der Gegensatz des Wahren und des Falschen wird, so pflegt sie auch entweder Bey- stimmung oder Widerspruch gegen ein vorhan- denes philosophisches System zu erwarten, und in einer Erklärung über ein solches nur ent- weder das eine oder das andre zu sehen. Sie begreifft die Verschiedenheit philosophischer Sy- steme nicht so sehr als die fortschreitende Ent- wiklung der Wahrheit, als sie in der Verschie- denheit nur den Widerspruch sieht. Die Knos- pe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüthe, und man könnte sagen, dass jene von dieser widerlegt wird, eben so wird durch die Frucht die Blüthe für ein falsches Daseyn der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieser. Diese Formen unter- scheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich mit einander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten
und dieſe doch von ihr ſelbſt als unfähig, die Wahrheit zu faſſen, aufgezeigt würde.
So wird auch durch die Beſtimmung des Verhältniſſes, das ein philoſophiſches Werk zu andern Beſtrebungen über denſelben Gegenſtand zu haben glaubt, ein fremdartiges Intereſſe herein- gezogen, und das, worauf es bey der Erkennt- niſs der Wahrheit ankommt, verdunkelt. So feſt der Meynung der Gegenſatz des Wahren und des Falſchen wird, ſo pflegt ſie auch entweder Bey- ſtimmung oder Widerſpruch gegen ein vorhan- denes philoſophiſches Syſtem zu erwarten, und in einer Erklärung über ein ſolches nur ent- weder das eine oder das andre zu ſehen. Sie begreifft die Verſchiedenheit philoſophiſcher Sy- ſteme nicht ſo ſehr als die fortſchreitende Ent- wiklung der Wahrheit, als ſie in der Verſchie- denheit nur den Widerſpruch ſieht. Die Knoſ- pe verſchwindet in dem Hervorbrechen der Blüthe, und man könnte ſagen, daſs jene von dieſer widerlegt wird, eben ſo wird durch die Frucht die Blüthe für ein falſches Daſeyn der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieſer. Dieſe Formen unter- ſcheiden ſich nicht nur, ſondern verdrängen ſich auch als unverträglich mit einander. Aber ihre flüſsige Natur macht ſie zugleich zu Momenten
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[III/0018]
und dieſe doch von ihr ſelbſt als unfähig, die
Wahrheit zu faſſen, aufgezeigt würde.
So wird auch durch die Beſtimmung des
Verhältniſſes, das ein philoſophiſches Werk zu
andern Beſtrebungen über denſelben Gegenſtand
zu haben glaubt, ein fremdartiges Intereſſe herein-
gezogen, und das, worauf es bey der Erkennt-
niſs der Wahrheit ankommt, verdunkelt. So feſt
der Meynung der Gegenſatz des Wahren und des
Falſchen wird, ſo pflegt ſie auch entweder Bey-
ſtimmung oder Widerſpruch gegen ein vorhan-
denes philoſophiſches Syſtem zu erwarten, und
in einer Erklärung über ein ſolches nur ent-
weder das eine oder das andre zu ſehen. Sie
begreifft die Verſchiedenheit philoſophiſcher Sy-
ſteme nicht ſo ſehr als die fortſchreitende Ent-
wiklung der Wahrheit, als ſie in der Verſchie-
denheit nur den Widerſpruch ſieht. Die Knoſ-
pe verſchwindet in dem Hervorbrechen der
Blüthe, und man könnte ſagen, daſs jene von
dieſer widerlegt wird, eben ſo wird durch die
Frucht die Blüthe für ein falſches Daſeyn der
Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene
an die Stelle von dieſer. Dieſe Formen unter-
ſcheiden ſich nicht nur, ſondern verdrängen ſich
auch als unverträglich mit einander. Aber ihre
flüſsige Natur macht ſie zugleich zu Momenten
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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Wissenschaft. Erster Theil: Die Phänomenologie des Geistes. Bamberg u. a., 1807, S. III. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_phaenomenologie_1807/18>, abgerufen am 23.11.2024.
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