Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik. Bd. 2. Nürnberg, 1816.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Abschnitt. Subjectivität.
Bestimmungen nur ihrer Form nach ewige Wesen-
heiten; aber ihr Inhalt ist dieser Form nicht angemes-
sen; sie sind daher nicht Wahrheit und Unvergänglich-
keit. Ihr Inhalt ist der Form nicht angemessen, weil
er nicht die Bestimmtheit selbst als allgemein, d. i. nicht
als Totalität des Begriffsunterschieds, oder nicht selbst
die ganze Form ist; die Form des beschränkten Verstan-
des ist darum aber selbst die unvollkommne, nemlich
abstracte Allgemeinheit. -- Es ist aber ferner als
die unendliche Kraft des Verstandes zu achten, das
Concrete in die abstracten Bestimmtheiten zu trennen,
und die Tiefe des Unterschieds zu fassen, welche allein
zugleich die Macht ist, die ihren Uebergang bewirkt. Das
Concrete der Anschauung ist Totalität, aber die
sinnliche, -- ein realer Stoff, der in Raum und Zeit
gleichgültig aussereinander besteht; diese Einheits-
losigkeit des Mannichfaltigen, in der es der Inhalt der
Anschauung ist, sollte ihm doch wohl nicht als Ver-
dienst und Vorzug vor dem Verständigen angerechn[et]
werden. Die Veränderlichkeit, die es in der Anschauung
zeigt, deutet schon auf das Allgemeine hin; was davon
zur Anschauung kommt, ist nur ein anderes eben so
Veränderliches, also nur das Nämliche; es ist nicht das
Allgemeine, das an dessen Stelle träte und erschiene.
Am wenigsten aber sollte der Wissenschaft z. B. der
Geometrie und Arithmetik, das Anschauliche, das
ihr Stoff mit sich bringt, zu einem Verdienste angerech-
net, und ihre Sätze als hiedurch begründet, vorgestellt
werden. Vielmehr ist der Stoff solcher Wissenschaften
darum von niedrigerer Natur; das Anschauen der Fi-
guren oder Zahlen verhilft nicht zur Wissenschaft der-
selben; nur das Denken darüber vermag eine solche
hervorzubringen. -- Insofern aber unter Anschauung
nicht bloß das Sinnliche, sondern die objective To-
talität
verstanden wird, so ist sie eine intel-

lec-

I. Abſchnitt. Subjectivitaͤt.
Beſtimmungen nur ihrer Form nach ewige Weſen-
heiten; aber ihr Inhalt iſt dieſer Form nicht angemeſ-
ſen; ſie ſind daher nicht Wahrheit und Unvergaͤnglich-
keit. Ihr Inhalt iſt der Form nicht angemeſſen, weil
er nicht die Beſtimmtheit ſelbſt als allgemein, d. i. nicht
als Totalitaͤt des Begriffsunterſchieds, oder nicht ſelbſt
die ganze Form iſt; die Form des beſchraͤnkten Verſtan-
des iſt darum aber ſelbſt die unvollkommne, nemlich
abſtracte Allgemeinheit. — Es iſt aber ferner als
die unendliche Kraft des Verſtandes zu achten, das
Concrete in die abſtracten Beſtimmtheiten zu trennen,
und die Tiefe des Unterſchieds zu faſſen, welche allein
zugleich die Macht iſt, die ihren Uebergang bewirkt. Das
Concrete der Anſchauung iſt Totalitaͤt, aber die
ſinnliche, — ein realer Stoff, der in Raum und Zeit
gleichguͤltig auſſereinander beſteht; dieſe Einheits-
loſigkeit des Mannichfaltigen, in der es der Inhalt der
Anſchauung iſt, ſollte ihm doch wohl nicht als Ver-
dienſt und Vorzug vor dem Verſtaͤndigen angerechn[et]
werden. Die Veraͤnderlichkeit, die es in der Anſchauung
zeigt, deutet ſchon auf das Allgemeine hin; was davon
zur Anſchauung kommt, iſt nur ein anderes eben ſo
Veraͤnderliches, alſo nur das Naͤmliche; es iſt nicht das
Allgemeine, das an deſſen Stelle traͤte und erſchiene.
Am wenigſten aber ſollte der Wiſſenſchaft z. B. der
Geometrie und Arithmetik, das Anſchauliche, das
ihr Stoff mit ſich bringt, zu einem Verdienſte angerech-
net, und ihre Saͤtze als hiedurch begruͤndet, vorgeſtellt
werden. Vielmehr iſt der Stoff ſolcher Wiſſenſchaften
darum von niedrigerer Natur; das Anſchauen der Fi-
guren oder Zahlen verhilft nicht zur Wiſſenſchaft der-
ſelben; nur das Denken daruͤber vermag eine ſolche
hervorzubringen. — Inſofern aber unter Anſchauung
nicht bloß das Sinnliche, ſondern die objective To-
talitaͤt
verſtanden wird, ſo iſt ſie eine intel-

lec-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0070" n="52"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi><hi rendition="#g">Ab&#x017F;chnitt. Subjectivita&#x0364;t</hi>.</fw><lb/>
Be&#x017F;timmungen nur <hi rendition="#g">ihrer Form</hi> nach ewige We&#x017F;en-<lb/>
heiten; aber ihr Inhalt i&#x017F;t die&#x017F;er Form nicht angeme&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en; &#x017F;ie &#x017F;ind daher nicht Wahrheit und Unverga&#x0364;nglich-<lb/>
keit. Ihr Inhalt i&#x017F;t der Form nicht angeme&#x017F;&#x017F;en, weil<lb/>
er nicht die Be&#x017F;timmtheit &#x017F;elb&#x017F;t als allgemein, d. i. nicht<lb/>
als Totalita&#x0364;t des Begriffsunter&#x017F;chieds, oder nicht &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
die ganze Form i&#x017F;t; die Form des be&#x017F;chra&#x0364;nkten Ver&#x017F;tan-<lb/>
des i&#x017F;t darum aber &#x017F;elb&#x017F;t die unvollkommne, nemlich<lb/><hi rendition="#g">ab&#x017F;tracte</hi> Allgemeinheit. &#x2014; Es i&#x017F;t aber ferner als<lb/>
die unendliche Kraft des Ver&#x017F;tandes zu achten, das<lb/>
Concrete in die ab&#x017F;tracten Be&#x017F;timmtheiten zu trennen,<lb/>
und die Tiefe des Unter&#x017F;chieds zu fa&#x017F;&#x017F;en, welche allein<lb/>
zugleich die Macht i&#x017F;t, die ihren Uebergang bewirkt. Das<lb/>
Concrete der <hi rendition="#g">An&#x017F;chauung</hi> i&#x017F;t <hi rendition="#g">Totalita&#x0364;t</hi>, aber die<lb/><hi rendition="#g">&#x017F;innliche</hi>, &#x2014; ein realer Stoff, der in Raum und Zeit<lb/>
gleichgu&#x0364;ltig <hi rendition="#g">au&#x017F;&#x017F;ereinander</hi> be&#x017F;teht; die&#x017F;e Einheits-<lb/>
lo&#x017F;igkeit des Mannichfaltigen, in der es der Inhalt der<lb/>
An&#x017F;chauung i&#x017F;t, &#x017F;ollte ihm doch wohl nicht als Ver-<lb/>
dien&#x017F;t und Vorzug vor dem Ver&#x017F;ta&#x0364;ndigen angerechn<supplied>et</supplied><lb/>
werden. Die Vera&#x0364;nderlichkeit, die es in der An&#x017F;chauung<lb/>
zeigt, deutet &#x017F;chon auf das Allgemeine hin; was davon<lb/>
zur An&#x017F;chauung kommt, i&#x017F;t nur ein <hi rendition="#g">anderes</hi> eben &#x017F;o<lb/>
Vera&#x0364;nderliches, al&#x017F;o nur das Na&#x0364;mliche; es i&#x017F;t nicht das<lb/>
Allgemeine, das an de&#x017F;&#x017F;en Stelle tra&#x0364;te und er&#x017F;chiene.<lb/>
Am wenig&#x017F;ten aber &#x017F;ollte der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft z. B. der<lb/>
Geometrie und Arithmetik, das <hi rendition="#g">An&#x017F;chauliche</hi>, das<lb/>
ihr Stoff mit &#x017F;ich bringt, zu einem Verdien&#x017F;te angerech-<lb/>
net, und ihre Sa&#x0364;tze als hiedurch begru&#x0364;ndet, vorge&#x017F;tellt<lb/>
werden. Vielmehr i&#x017F;t der Stoff &#x017F;olcher Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften<lb/>
darum von niedrigerer Natur; das An&#x017F;chauen der Fi-<lb/>
guren oder Zahlen verhilft nicht zur Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft der-<lb/>
&#x017F;elben; nur das <hi rendition="#g">Denken</hi> daru&#x0364;ber vermag eine &#x017F;olche<lb/>
hervorzubringen. &#x2014; In&#x017F;ofern aber unter An&#x017F;chauung<lb/>
nicht bloß das Sinnliche, &#x017F;ondern die <hi rendition="#g">objective To-<lb/>
talita&#x0364;t</hi> ver&#x017F;tanden wird, &#x017F;o i&#x017F;t &#x017F;ie eine <hi rendition="#g">intel-</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#g">lec-</hi></fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[52/0070] I. Abſchnitt. Subjectivitaͤt. Beſtimmungen nur ihrer Form nach ewige Weſen- heiten; aber ihr Inhalt iſt dieſer Form nicht angemeſ- ſen; ſie ſind daher nicht Wahrheit und Unvergaͤnglich- keit. Ihr Inhalt iſt der Form nicht angemeſſen, weil er nicht die Beſtimmtheit ſelbſt als allgemein, d. i. nicht als Totalitaͤt des Begriffsunterſchieds, oder nicht ſelbſt die ganze Form iſt; die Form des beſchraͤnkten Verſtan- des iſt darum aber ſelbſt die unvollkommne, nemlich abſtracte Allgemeinheit. — Es iſt aber ferner als die unendliche Kraft des Verſtandes zu achten, das Concrete in die abſtracten Beſtimmtheiten zu trennen, und die Tiefe des Unterſchieds zu faſſen, welche allein zugleich die Macht iſt, die ihren Uebergang bewirkt. Das Concrete der Anſchauung iſt Totalitaͤt, aber die ſinnliche, — ein realer Stoff, der in Raum und Zeit gleichguͤltig auſſereinander beſteht; dieſe Einheits- loſigkeit des Mannichfaltigen, in der es der Inhalt der Anſchauung iſt, ſollte ihm doch wohl nicht als Ver- dienſt und Vorzug vor dem Verſtaͤndigen angerechnet werden. Die Veraͤnderlichkeit, die es in der Anſchauung zeigt, deutet ſchon auf das Allgemeine hin; was davon zur Anſchauung kommt, iſt nur ein anderes eben ſo Veraͤnderliches, alſo nur das Naͤmliche; es iſt nicht das Allgemeine, das an deſſen Stelle traͤte und erſchiene. Am wenigſten aber ſollte der Wiſſenſchaft z. B. der Geometrie und Arithmetik, das Anſchauliche, das ihr Stoff mit ſich bringt, zu einem Verdienſte angerech- net, und ihre Saͤtze als hiedurch begruͤndet, vorgeſtellt werden. Vielmehr iſt der Stoff ſolcher Wiſſenſchaften darum von niedrigerer Natur; das Anſchauen der Fi- guren oder Zahlen verhilft nicht zur Wiſſenſchaft der- ſelben; nur das Denken daruͤber vermag eine ſolche hervorzubringen. — Inſofern aber unter Anſchauung nicht bloß das Sinnliche, ſondern die objective To- talitaͤt verſtanden wird, ſo iſt ſie eine intel- lec-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_logik02_1816
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_logik02_1816/70
Zitationshilfe: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik. Bd. 2. Nürnberg, 1816, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_logik02_1816/70>, abgerufen am 27.11.2024.