Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik. Bd. 2. Nürnberg, 1816.

Bild:

<< vorherige Seite

nächste Seite >>

II. Kapitel. Das Erkennen.

Begriffsbestimmung sucht, wo sie nicht zu finden ist. --
Das Definiren thut daher auch auf eigentliche Begriffs-
bestimmungen, die wesentlich die Principien der Gegen-
stände wären, von selbst Verzicht, und begnügt sich mit
Merkmahlen, d. i. Bestimmungen, bey denen die
Wesentlichkeit für den Gegenstand selbst gleichgül-
tig ist, und die vielmehr nur den Zweck haben, daß sie
für eine äussere Reflexion Merkzeichen sind. -- Eine
solche einzelne, äusserliche Bestimmtheit steht mit der
concreten Totalität und mit der Natur ihres Begriffs zu
sehr in Unangemessenheit, als daß sie für sich gewählt
und dafür genommen werden könnte, daß ein concretes
Ganzes seinen wahrhaften Ausdruck und Bestimmung
in ihr hätte. -- Nach Blumenbachs Bemerkung z. B.
ist das Ohrläppchen etwas, das allen andern Thieren
fehlt, das also nach den gewöhnlichen Redensarten von
gemeinsamen und unterscheidenden Merkmahlen, mit al-
lem Recht als der distinctive Charakter in der Definition
des physischen Menschen gebraucht werden könnte. Aber
wie unangemessen zeigt sich sogleich eine solche ganz
äusserliche Bestimmung mit der Vorstellung des totalen
Habitus des physischen Menschen, und mit der Fode-
rung, daß die Begriffsbestimmung etwas Wesentliches
seyn soll! Es ist etwas ganz Zufälliges, wenn die in die
Definition aufgenommene Merkmahle nur solche reine
Nothbehelfe sind, oder aber sich der Natur eines Princips
mehr nähern. Es ist ihnen um ihrer Aeusserlichkeit
willen auch anzusehen, daß von ihnen in der Begriffs-
Erkenntniß nicht angefangen worden ist; vielmehr ist ein
dunkles Gefühl, ein unbestimmter aber tieferer Sinn,
eine Ahndung des Wesentlichen, der Erfindung der Gat-
tungen in der Natur und im Geiste vorangegangen, und
dann erst für den Verstand eine bestimmte Aeusserlich-
keit aufgesucht worden. -- Der Begriff, indem er im
Daseyn in die Aeusserlichkeit getreten ist, ist er in seine

Un-

II. Kapitel. Das Erkennen.

Begriffsbeſtimmung ſucht, wo ſie nicht zu finden iſt. —
Das Definiren thut daher auch auf eigentliche Begriffs-
beſtimmungen, die weſentlich die Principien der Gegen-
ſtaͤnde waͤren, von ſelbſt Verzicht, und begnuͤgt ſich mit
Merkmahlen, d. i. Beſtimmungen, bey denen die
Weſentlichkeit fuͤr den Gegenſtand ſelbſt gleichguͤl-
tig iſt, und die vielmehr nur den Zweck haben, daß ſie
fuͤr eine aͤuſſere Reflexion Merkzeichen ſind. — Eine
ſolche einzelne, aͤuſſerliche Beſtimmtheit ſteht mit der
concreten Totalitaͤt und mit der Natur ihres Begriffs zu
ſehr in Unangemeſſenheit, als daß ſie fuͤr ſich gewaͤhlt
und dafuͤr genommen werden koͤnnte, daß ein concretes
Ganzes ſeinen wahrhaften Ausdruck und Beſtimmung
in ihr haͤtte. — Nach Blumenbachs Bemerkung z. B.
iſt das Ohrlaͤppchen etwas, das allen andern Thieren
fehlt, das alſo nach den gewoͤhnlichen Redensarten von
gemeinſamen und unterſcheidenden Merkmahlen, mit al-
lem Recht als der diſtinctive Charakter in der Definition
des phyſiſchen Menſchen gebraucht werden koͤnnte. Aber
wie unangemeſſen zeigt ſich ſogleich eine ſolche ganz
aͤuſſerliche Beſtimmung mit der Vorſtellung des totalen
Habitus des phyſiſchen Menſchen, und mit der Fode-
rung, daß die Begriffsbeſtimmung etwas Weſentliches
ſeyn ſoll! Es iſt etwas ganz Zufaͤlliges, wenn die in die
Definition aufgenommene Merkmahle nur ſolche reine
Nothbehelfe ſind, oder aber ſich der Natur eines Princips
mehr naͤhern. Es iſt ihnen um ihrer Aeuſſerlichkeit
willen auch anzuſehen, daß von ihnen in der Begriffs-
Erkenntniß nicht angefangen worden iſt; vielmehr iſt ein
dunkles Gefuͤhl, ein unbeſtimmter aber tieferer Sinn,
eine Ahndung des Weſentlichen, der Erfindung der Gat-
tungen in der Natur und im Geiſte vorangegangen, und
dann erſt fuͤr den Verſtand eine beſtimmte Aeuſſerlich-
keit aufgeſucht worden. — Der Begriff, indem er im
Daſeyn in die Aeuſſerlichkeit getreten iſt, iſt er in ſeine

Un-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0351" n="333"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi><hi rendition="#g">Kapitel. Das Erkennen</hi>.</fw><lb/>
Begriffsbe&#x017F;timmung &#x017F;ucht, wo &#x017F;ie nicht zu finden i&#x017F;t. &#x2014;<lb/>
Das Definiren thut daher auch auf eigentliche Begriffs-<lb/>
be&#x017F;timmungen, die we&#x017F;entlich die Principien der Gegen-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;nde wa&#x0364;ren, von &#x017F;elb&#x017F;t Verzicht, und begnu&#x0364;gt &#x017F;ich mit<lb/><hi rendition="#g">Merkmahlen</hi>, d. i. Be&#x017F;timmungen, bey denen die<lb/><hi rendition="#g">We&#x017F;entlichkeit</hi> fu&#x0364;r den Gegen&#x017F;tand &#x017F;elb&#x017F;t gleichgu&#x0364;l-<lb/>
tig i&#x017F;t, und die vielmehr nur den Zweck haben, daß &#x017F;ie<lb/>
fu&#x0364;r eine a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;ere Reflexion <hi rendition="#g">Merkzeichen</hi> &#x017F;ind. &#x2014; Eine<lb/>
&#x017F;olche einzelne, <hi rendition="#g">a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;erliche</hi> Be&#x017F;timmtheit &#x017F;teht mit der<lb/>
concreten Totalita&#x0364;t und mit der Natur ihres Begriffs zu<lb/>
&#x017F;ehr in Unangeme&#x017F;&#x017F;enheit, als daß &#x017F;ie fu&#x0364;r &#x017F;ich gewa&#x0364;hlt<lb/>
und dafu&#x0364;r genommen werden ko&#x0364;nnte, daß ein concretes<lb/>
Ganzes &#x017F;einen wahrhaften Ausdruck und Be&#x017F;timmung<lb/>
in ihr ha&#x0364;tte. &#x2014; Nach <hi rendition="#g">Blumenbachs</hi> Bemerkung z. B.<lb/>
i&#x017F;t das Ohrla&#x0364;ppchen etwas, das allen andern Thieren<lb/>
fehlt, das al&#x017F;o nach den gewo&#x0364;hnlichen Redensarten von<lb/>
gemein&#x017F;amen und unter&#x017F;cheidenden Merkmahlen, mit al-<lb/>
lem Recht als der di&#x017F;tinctive Charakter in der Definition<lb/>
des phy&#x017F;i&#x017F;chen Men&#x017F;chen gebraucht werden ko&#x0364;nnte. Aber<lb/>
wie unangeme&#x017F;&#x017F;en zeigt &#x017F;ich &#x017F;ogleich eine &#x017F;olche ganz<lb/>
a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;erliche Be&#x017F;timmung mit der Vor&#x017F;tellung des totalen<lb/>
Habitus des phy&#x017F;i&#x017F;chen Men&#x017F;chen, und mit der Fode-<lb/>
rung, daß die Begriffsbe&#x017F;timmung etwas We&#x017F;entliches<lb/>
&#x017F;eyn &#x017F;oll! Es i&#x017F;t etwas ganz Zufa&#x0364;lliges, wenn die in die<lb/>
Definition aufgenommene Merkmahle nur &#x017F;olche reine<lb/>
Nothbehelfe &#x017F;ind, oder aber &#x017F;ich der Natur eines Princips<lb/>
mehr na&#x0364;hern. Es i&#x017F;t ihnen um ihrer Aeu&#x017F;&#x017F;erlichkeit<lb/>
willen auch anzu&#x017F;ehen, daß von ihnen in der Begriffs-<lb/>
Erkenntniß nicht angefangen worden i&#x017F;t; vielmehr i&#x017F;t ein<lb/>
dunkles Gefu&#x0364;hl, ein unbe&#x017F;timmter aber tieferer Sinn,<lb/>
eine Ahndung des We&#x017F;entlichen, der Erfindung der Gat-<lb/>
tungen in der Natur und im Gei&#x017F;te vorangegangen, und<lb/>
dann er&#x017F;t fu&#x0364;r den Ver&#x017F;tand eine be&#x017F;timmte Aeu&#x017F;&#x017F;erlich-<lb/>
keit aufge&#x017F;ucht worden. &#x2014; Der Begriff, indem er im<lb/>
Da&#x017F;eyn in die Aeu&#x017F;&#x017F;erlichkeit getreten i&#x017F;t, i&#x017F;t er in &#x017F;eine<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Un-</fw><lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>

[333/0351] II. Kapitel. Das Erkennen. Begriffsbeſtimmung ſucht, wo ſie nicht zu finden iſt. — Das Definiren thut daher auch auf eigentliche Begriffs- beſtimmungen, die weſentlich die Principien der Gegen- ſtaͤnde waͤren, von ſelbſt Verzicht, und begnuͤgt ſich mit Merkmahlen, d. i. Beſtimmungen, bey denen die Weſentlichkeit fuͤr den Gegenſtand ſelbſt gleichguͤl- tig iſt, und die vielmehr nur den Zweck haben, daß ſie fuͤr eine aͤuſſere Reflexion Merkzeichen ſind. — Eine ſolche einzelne, aͤuſſerliche Beſtimmtheit ſteht mit der concreten Totalitaͤt und mit der Natur ihres Begriffs zu ſehr in Unangemeſſenheit, als daß ſie fuͤr ſich gewaͤhlt und dafuͤr genommen werden koͤnnte, daß ein concretes Ganzes ſeinen wahrhaften Ausdruck und Beſtimmung in ihr haͤtte. — Nach Blumenbachs Bemerkung z. B. iſt das Ohrlaͤppchen etwas, das allen andern Thieren fehlt, das alſo nach den gewoͤhnlichen Redensarten von gemeinſamen und unterſcheidenden Merkmahlen, mit al- lem Recht als der diſtinctive Charakter in der Definition des phyſiſchen Menſchen gebraucht werden koͤnnte. Aber wie unangemeſſen zeigt ſich ſogleich eine ſolche ganz aͤuſſerliche Beſtimmung mit der Vorſtellung des totalen Habitus des phyſiſchen Menſchen, und mit der Fode- rung, daß die Begriffsbeſtimmung etwas Weſentliches ſeyn ſoll! Es iſt etwas ganz Zufaͤlliges, wenn die in die Definition aufgenommene Merkmahle nur ſolche reine Nothbehelfe ſind, oder aber ſich der Natur eines Princips mehr naͤhern. Es iſt ihnen um ihrer Aeuſſerlichkeit willen auch anzuſehen, daß von ihnen in der Begriffs- Erkenntniß nicht angefangen worden iſt; vielmehr iſt ein dunkles Gefuͤhl, ein unbeſtimmter aber tieferer Sinn, eine Ahndung des Weſentlichen, der Erfindung der Gat- tungen in der Natur und im Geiſte vorangegangen, und dann erſt fuͤr den Verſtand eine beſtimmte Aeuſſerlich- keit aufgeſucht worden. — Der Begriff, indem er im Daſeyn in die Aeuſſerlichkeit getreten iſt, iſt er in ſeine Un-

Suche im Werk

Informationen zum Werk

Titeldaten
Verfügbarkeit Text (TEI-XML-, HTML-, TCF-, E-Book-Fassung): CC BY-SA 4.0.
Nutzungsbedingungen

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ^?

Language Resource Switchboard^?

Resource/URL übermitteln

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk:	https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_logik02_1816
URL zu dieser Seite:	https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_logik02_1816/351
Zitationshilfe:	Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik. Bd. 2. Nürnberg, 1816, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_logik02_1816/351>, abgerufen am 22.11.2024.

Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer Creative-Commons-Lizenz. Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken. Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.

Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.

2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de.

Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.