an und für sich bleibe, nur Hirngespinnste erzeuge. In diesem Verzichtthun der Vernunft auf sich selbst ist der Begriff der Wahrheit verlohren gegangen; sie hat sich darauf eingeschränkt, nur subjective Wahrheit, nur die Erscheinung zu erkennen, nur etwas, dem die Natur der Sache selbst nicht entspreche; das Wissen ist zur Mey- nung zurükgefallen.
Allein diese Wendung, welche das Erkennen genom- men hat, und die als Verlust und Rükschritt erscheint, hat das Tiefere zum Grunde, worauf überhaupt die Er- hebung der Vernunft in den höhern Geist der neuern Philo- sophie beruht. Der Grund jener allgemein gewordenen Vor- stellung ist nemlich in der Einsicht von dem nothwendigen Widerstreite der Bestimmungen des Verstands mit sich selbst, zu suchen. -- Die Reflexion geht über das con- crete Unmittelbare hinaus, und trennt dasselbe bestim- mend. Aber sie muß eben so sehr über diese ihre tren- nenden Bestimmungen hinausgehen, und sie zunächst bezie- hen. Auf dem Standpunkte dieses Beziehens tritt der Widerstreit derselben hervor. Dieses Beziehen der Re- flexion gehört der Vernunft an; die Erhebung über jene Bestimmungen, die zur Einsicht ihres Widerstreits ge- langt, ist der große negative Schritt zum wahrhaften Begriffe der Vernunft. Aber die nicht durchgeführte Einsicht fällt in den Misverstand, als ob die Vernunft es sey, welche in Widerspruch mit sich gerathe; sie er- kennt nicht, daß der Widerspruch eben das Erheben der Vernunft über die Beschränkungen des Verstands und das Auflösen derselben ist. Statt von hier aus den letz-
ten
Einleitung.
an und fuͤr ſich bleibe, nur Hirngeſpinnſte erzeuge. In dieſem Verzichtthun der Vernunft auf ſich ſelbſt iſt der Begriff der Wahrheit verlohren gegangen; ſie hat ſich darauf eingeſchraͤnkt, nur ſubjective Wahrheit, nur die Erſcheinung zu erkennen, nur etwas, dem die Natur der Sache ſelbſt nicht entſpreche; das Wiſſen iſt zur Mey- nung zuruͤkgefallen.
Allein dieſe Wendung, welche das Erkennen genom- men hat, und die als Verluſt und Ruͤkſchritt erſcheint, hat das Tiefere zum Grunde, worauf uͤberhaupt die Er- hebung der Vernunft in den hoͤhern Geiſt der neuern Philo- ſophie beruht. Der Grund jener allgemein gewordenen Vor- ſtellung iſt nemlich in der Einſicht von dem nothwendigen Widerſtreite der Beſtimmungen des Verſtands mit ſich ſelbſt, zu ſuchen. — Die Reflexion geht uͤber das con- crete Unmittelbare hinaus, und trennt daſſelbe beſtim- mend. Aber ſie muß eben ſo ſehr uͤber dieſe ihre tren- nenden Beſtimmungen hinausgehen, und ſie zunaͤchſt bezie- hen. Auf dem Standpunkte dieſes Beziehens tritt der Widerſtreit derſelben hervor. Dieſes Beziehen der Re- flexion gehoͤrt der Vernunft an; die Erhebung uͤber jene Beſtimmungen, die zur Einſicht ihres Widerſtreits ge- langt, iſt der große negative Schritt zum wahrhaften Begriffe der Vernunft. Aber die nicht durchgefuͤhrte Einſicht faͤllt in den Misverſtand, als ob die Vernunft es ſey, welche in Widerſpruch mit ſich gerathe; ſie er- kennt nicht, daß der Widerſpruch eben das Erheben der Vernunft uͤber die Beſchraͤnkungen des Verſtands und das Aufloͤſen derſelben iſt. Statt von hier aus den letz-
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[VI/0026]
Einleitung.
an und fuͤr ſich bleibe, nur Hirngeſpinnſte erzeuge. In
dieſem Verzichtthun der Vernunft auf ſich ſelbſt iſt der
Begriff der Wahrheit verlohren gegangen; ſie hat ſich
darauf eingeſchraͤnkt, nur ſubjective Wahrheit, nur die
Erſcheinung zu erkennen, nur etwas, dem die Natur der
Sache ſelbſt nicht entſpreche; das Wiſſen iſt zur Mey-
nung zuruͤkgefallen.
Allein dieſe Wendung, welche das Erkennen genom-
men hat, und die als Verluſt und Ruͤkſchritt erſcheint,
hat das Tiefere zum Grunde, worauf uͤberhaupt die Er-
hebung der Vernunft in den hoͤhern Geiſt der neuern Philo-
ſophie beruht. Der Grund jener allgemein gewordenen Vor-
ſtellung iſt nemlich in der Einſicht von dem nothwendigen
Widerſtreite der Beſtimmungen des Verſtands mit ſich
ſelbſt, zu ſuchen. — Die Reflexion geht uͤber das con-
crete Unmittelbare hinaus, und trennt daſſelbe beſtim-
mend. Aber ſie muß eben ſo ſehr uͤber dieſe ihre tren-
nenden Beſtimmungen hinausgehen, und ſie zunaͤchſt bezie-
hen. Auf dem Standpunkte dieſes Beziehens tritt der
Widerſtreit derſelben hervor. Dieſes Beziehen der Re-
flexion gehoͤrt der Vernunft an; die Erhebung uͤber jene
Beſtimmungen, die zur Einſicht ihres Widerſtreits ge-
langt, iſt der große negative Schritt zum wahrhaften
Begriffe der Vernunft. Aber die nicht durchgefuͤhrte
Einſicht faͤllt in den Misverſtand, als ob die Vernunft
es ſey, welche in Widerſpruch mit ſich gerathe; ſie er-
kennt nicht, daß der Widerſpruch eben das Erheben der
Vernunft uͤber die Beſchraͤnkungen des Verſtands und
das Aufloͤſen derſelben iſt. Statt von hier aus den letz-
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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik. Bd. 1,1. Nürnberg, 1812, S. VI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_logik0101_1812/26>, abgerufen am 25.07.2024.
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