Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik. Bd. 1,1. Nürnberg, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Quantität.
der Begriff des wahrhaften Unendlichen zu Grunde liegt
und weil es viel höher steht, als das gewöhnlich soge-
nannte metaphysische Unendliche, von dem aus
die Einwürfe gegen ersteres gemacht werden. Gegen
diese Einwürfe weiß sich die Wissenschaft der Mathema-
tik gewöhnlich nur dadurch zu retten, daß sie die Kom-
petenz der Metaphysik verwirft, indem sie behauptet,
daß sie mit dieser Wissenschaft nichts zu schaffen und sich
um ihren Begriff nicht zu bekümmern habe, wenn sie
nur auf ihrem eigenen Boden consequent verfahre. Sie
habe nicht zu betrachten, was an sich, sondern was auf
ihrem Felde das Wahre sey. Die Metaphysik weiß die
glänzenden Resultate des Gebrauchs des mathematischen
Unendlichen nicht zu leugnen oder umzustossen, und die
Mathematik weiß mit der Metaphysik ihres eigenen Be-
griffs und daher auch mit der Ableitung der Verfahrungs-
weisen, die der Gebrauch des Unendlichen nöthig macht,
nicht ins Reine zu kommen.

Wenn es die einzige Schwierigkeit des Begriffs
überhaupt wäre, von der die Mathematik gedrückt wür-
de, so könnte sie diesen ohne Umstände auf der Seite lie-
gen lassen, insofern nemlich der Begriff mehr ist, als
nur die Angabe der wesentlichen Bestimmtheit einer Sa-
che; denn sie ist nicht eine Wissenschaft, die es mit den
Begriffen ihrer Gegenstände zu thun, und durch die Ent-
wicklung des Begriffs, wenn auch nur durch Räsonne-
ment, ihren Inhalt zu erzeugen hat. Allein bey der
Methode ihres Unendlichen findet sie den Hauptwi-
derspruch
an der eigenthümlichen Methode,
worauf sie überhaupt als Wissenschaft beruht. Denn
die Rechnung des Unendlichen erlaubt und erfodert Ver-
fahrungsweisen, welche die Mathematik sonst bey Ope-
rationen mit endlichen Größen durchaus verwerfen muß,
und zugleich behandelt sie ihre unendlichen Größen, wie

endliche

Quantitaͤt.
der Begriff des wahrhaften Unendlichen zu Grunde liegt
und weil es viel hoͤher ſteht, als das gewoͤhnlich ſoge-
nannte metaphyſiſche Unendliche, von dem aus
die Einwuͤrfe gegen erſteres gemacht werden. Gegen
dieſe Einwuͤrfe weiß ſich die Wiſſenſchaft der Mathema-
tik gewoͤhnlich nur dadurch zu retten, daß ſie die Kom-
petenz der Metaphyſik verwirft, indem ſie behauptet,
daß ſie mit dieſer Wiſſenſchaft nichts zu ſchaffen und ſich
um ihren Begriff nicht zu bekuͤmmern habe, wenn ſie
nur auf ihrem eigenen Boden conſequent verfahre. Sie
habe nicht zu betrachten, was an ſich, ſondern was auf
ihrem Felde das Wahre ſey. Die Metaphyſik weiß die
glaͤnzenden Reſultate des Gebrauchs des mathematiſchen
Unendlichen nicht zu leugnen oder umzuſtoſſen, und die
Mathematik weiß mit der Metaphyſik ihres eigenen Be-
griffs und daher auch mit der Ableitung der Verfahrungs-
weiſen, die der Gebrauch des Unendlichen noͤthig macht,
nicht ins Reine zu kommen.

Wenn es die einzige Schwierigkeit des Begriffs
uͤberhaupt waͤre, von der die Mathematik gedruͤckt wuͤr-
de, ſo koͤnnte ſie dieſen ohne Umſtaͤnde auf der Seite lie-
gen laſſen, inſofern nemlich der Begriff mehr iſt, als
nur die Angabe der weſentlichen Beſtimmtheit einer Sa-
che; denn ſie iſt nicht eine Wiſſenſchaft, die es mit den
Begriffen ihrer Gegenſtaͤnde zu thun, und durch die Ent-
wicklung des Begriffs, wenn auch nur durch Raͤſonne-
ment, ihren Inhalt zu erzeugen hat. Allein bey der
Methode ihres Unendlichen findet ſie den Hauptwi-
derſpruch
an der eigenthuͤmlichen Methode,
worauf ſie uͤberhaupt als Wiſſenſchaft beruht. Denn
die Rechnung des Unendlichen erlaubt und erfodert Ver-
fahrungsweiſen, welche die Mathematik ſonſt bey Ope-
rationen mit endlichen Groͤßen durchaus verwerfen muß,
und zugleich behandelt ſie ihre unendlichen Groͤßen, wie

endliche
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p><pb facs="#f0255" n="207"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Quantita&#x0364;t</hi>.</fw><lb/>
der Begriff des wahrhaften Unendlichen zu Grunde liegt<lb/>
und weil es viel ho&#x0364;her &#x017F;teht, als das gewo&#x0364;hnlich &#x017F;oge-<lb/>
nannte <hi rendition="#g">metaphy&#x017F;i&#x017F;che Unendliche</hi>, von dem aus<lb/>
die Einwu&#x0364;rfe gegen er&#x017F;teres gemacht werden. Gegen<lb/>
die&#x017F;e Einwu&#x0364;rfe weiß &#x017F;ich die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft der Mathema-<lb/>
tik gewo&#x0364;hnlich nur dadurch zu retten, daß &#x017F;ie die Kom-<lb/>
petenz der Metaphy&#x017F;ik verwirft, indem &#x017F;ie behauptet,<lb/>
daß &#x017F;ie mit die&#x017F;er Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft nichts zu &#x017F;chaffen und &#x017F;ich<lb/>
um ihren Begriff nicht zu beku&#x0364;mmern habe, wenn &#x017F;ie<lb/>
nur auf ihrem eigenen Boden con&#x017F;equent verfahre. Sie<lb/>
habe nicht zu betrachten, was an &#x017F;ich, &#x017F;ondern was auf<lb/>
ihrem Felde das Wahre &#x017F;ey. Die Metaphy&#x017F;ik weiß die<lb/>
gla&#x0364;nzenden Re&#x017F;ultate des Gebrauchs des mathemati&#x017F;chen<lb/>
Unendlichen nicht zu leugnen oder umzu&#x017F;to&#x017F;&#x017F;en, und die<lb/>
Mathematik weiß mit der Metaphy&#x017F;ik ihres eigenen Be-<lb/>
griffs und daher auch mit der Ableitung der Verfahrungs-<lb/>
wei&#x017F;en, die der Gebrauch des Unendlichen no&#x0364;thig macht,<lb/>
nicht ins Reine zu kommen.</p><lb/>
                    <p>Wenn es die einzige Schwierigkeit des <hi rendition="#g">Begriffs</hi><lb/>
u&#x0364;berhaupt wa&#x0364;re, von der die Mathematik gedru&#x0364;ckt wu&#x0364;r-<lb/>
de, &#x017F;o ko&#x0364;nnte &#x017F;ie die&#x017F;en ohne Um&#x017F;ta&#x0364;nde auf der Seite lie-<lb/>
gen la&#x017F;&#x017F;en, in&#x017F;ofern nemlich der Begriff mehr i&#x017F;t, als<lb/>
nur die Angabe der we&#x017F;entlichen Be&#x017F;timmtheit einer Sa-<lb/>
che; denn &#x017F;ie i&#x017F;t nicht eine Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, die es mit den<lb/>
Begriffen ihrer Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde zu thun, und durch die Ent-<lb/>
wicklung des Begriffs, wenn auch nur durch Ra&#x0364;&#x017F;onne-<lb/>
ment, ihren Inhalt zu erzeugen hat. Allein bey der<lb/>
Methode ihres Unendlichen findet &#x017F;ie den <hi rendition="#g">Hauptwi-<lb/>
der&#x017F;pruch</hi> an der <hi rendition="#g">eigenthu&#x0364;mlichen Methode</hi>,<lb/>
worauf &#x017F;ie u&#x0364;berhaupt als Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft beruht. Denn<lb/>
die Rechnung des Unendlichen erlaubt und erfodert Ver-<lb/>
fahrungswei&#x017F;en, welche die Mathematik &#x017F;on&#x017F;t bey Ope-<lb/>
rationen mit endlichen Gro&#x0364;ßen durchaus verwerfen muß,<lb/>
und zugleich behandelt &#x017F;ie ihre unendlichen Gro&#x0364;ßen, wie<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">endliche</fw><lb/></p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[207/0255] Quantitaͤt. der Begriff des wahrhaften Unendlichen zu Grunde liegt und weil es viel hoͤher ſteht, als das gewoͤhnlich ſoge- nannte metaphyſiſche Unendliche, von dem aus die Einwuͤrfe gegen erſteres gemacht werden. Gegen dieſe Einwuͤrfe weiß ſich die Wiſſenſchaft der Mathema- tik gewoͤhnlich nur dadurch zu retten, daß ſie die Kom- petenz der Metaphyſik verwirft, indem ſie behauptet, daß ſie mit dieſer Wiſſenſchaft nichts zu ſchaffen und ſich um ihren Begriff nicht zu bekuͤmmern habe, wenn ſie nur auf ihrem eigenen Boden conſequent verfahre. Sie habe nicht zu betrachten, was an ſich, ſondern was auf ihrem Felde das Wahre ſey. Die Metaphyſik weiß die glaͤnzenden Reſultate des Gebrauchs des mathematiſchen Unendlichen nicht zu leugnen oder umzuſtoſſen, und die Mathematik weiß mit der Metaphyſik ihres eigenen Be- griffs und daher auch mit der Ableitung der Verfahrungs- weiſen, die der Gebrauch des Unendlichen noͤthig macht, nicht ins Reine zu kommen. Wenn es die einzige Schwierigkeit des Begriffs uͤberhaupt waͤre, von der die Mathematik gedruͤckt wuͤr- de, ſo koͤnnte ſie dieſen ohne Umſtaͤnde auf der Seite lie- gen laſſen, inſofern nemlich der Begriff mehr iſt, als nur die Angabe der weſentlichen Beſtimmtheit einer Sa- che; denn ſie iſt nicht eine Wiſſenſchaft, die es mit den Begriffen ihrer Gegenſtaͤnde zu thun, und durch die Ent- wicklung des Begriffs, wenn auch nur durch Raͤſonne- ment, ihren Inhalt zu erzeugen hat. Allein bey der Methode ihres Unendlichen findet ſie den Hauptwi- derſpruch an der eigenthuͤmlichen Methode, worauf ſie uͤberhaupt als Wiſſenſchaft beruht. Denn die Rechnung des Unendlichen erlaubt und erfodert Ver- fahrungsweiſen, welche die Mathematik ſonſt bey Ope- rationen mit endlichen Groͤßen durchaus verwerfen muß, und zugleich behandelt ſie ihre unendlichen Groͤßen, wie endliche

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_logik0101_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_logik0101_1812/255
Zitationshilfe: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik. Bd. 1,1. Nürnberg, 1812, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_logik0101_1812/255>, abgerufen am 22.11.2024.