Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844.

Bild:
<< vorherige Seite
§. 41. Völkerrecht im Zustand des Friedens.
Theile derselben giltig, was sich nicht gegen unabänderliche
Regeln und Einrichtungen der Kirche oder wider die Kirche
überhaupt geltend machen will. 1 So wie ihr nun selbst
zustehen muß, aus ihrem Standpuncte die Zulässigkeit oder
Unzulässigkeit eines Herkommens zu prüfen und darüber ein
für ihre Glieder verbindliches Urtheil abzugeben, so unleug-
bar ist das gleiche Recht des Staates, die auf ein angebli-
ches Herkommen von der Kirche gegründeten äußeren An-
sprüche zu untersuchen und ihnen, wenn sie gegen den Staat
an sich oder dessen unabänderliche Einrichtungen sind, die
Wirksamkeit abzusprechen.
IV. Nicht schon wirkliches, sondern nur ein jeweiliges Herkom-
men (bloßer Besitzstand) ist die Praxis zwischen Kirche und
Staat; aber sie wird durch Unvordenklichkeit oder durch still-
schweigende Duldung und fortgesetzte Befolgung, obgleich
man zu widersprechen vermochte und ein Interesse hatte, zu
einem wirklichen Recht (§. 11.), dem sich hiernächst weder
Kirche noch Staat ohne Ungerechtigkeit entziehen darf. Auch
sind auf diesem Wege den Staatsgewalten manche Befug-
nisse zugefallen, die im Mittelalter von der Kirche geübt
oder doch beansprucht wurden. 2

41. Die nähere praktische Gestaltung der Verhältnisse des Rö-
mischen Stuhles, wie sie sich theils historisch ergeben hat, theils
aus den vorangeführten Quellen begründet werden kann, ist im
Allgemeinen diese:

I. Der Römische Oberbischof ist sowohl eine spirituelle Macht
für die seiner Kirche zugehörigen Gläubigen, theils eine auf
das s. g. Patrimonium Petri durch Schenkungen Pipins und
Carls des Großen, 3 so wie durch spätere Accessionen fun-
1 S. can. 7. D. 11., c. 6. D. 12., c. 4--9. D. 8., c. 1--11. X. de
consuet.
Walter, Kirchenr. §. 62. Richter, Kirchenr. §. 181.
2 Diesen Gesichtpunct nimmt unter Andern schon Petr. de Marca (Erzbi-
schof von Paris) de concordia Imp. et sacerd. III, 9, 8. "Conniven-
tia sedis Apostolicae id maxime praestat, ut bona fide Principes in eo
negotio tractando versentur, quod ad se pertinere non improbabili ra-
tione putant, ita ut patientia illa, si necesse sit, vicem privilegii et dis-
pensationis subeat."
3 Daß die s. g. Constantinische Schenkung unecht sei, wird jetzt von allen
Seiten zugegeben.
§. 41. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.
Theile derſelben giltig, was ſich nicht gegen unabänderliche
Regeln und Einrichtungen der Kirche oder wider die Kirche
überhaupt geltend machen will. 1 So wie ihr nun ſelbſt
zuſtehen muß, aus ihrem Standpuncte die Zuläſſigkeit oder
Unzuläſſigkeit eines Herkommens zu prüfen und darüber ein
für ihre Glieder verbindliches Urtheil abzugeben, ſo unleug-
bar iſt das gleiche Recht des Staates, die auf ein angebli-
ches Herkommen von der Kirche gegründeten äußeren An-
ſprüche zu unterſuchen und ihnen, wenn ſie gegen den Staat
an ſich oder deſſen unabänderliche Einrichtungen ſind, die
Wirkſamkeit abzuſprechen.
IV. Nicht ſchon wirkliches, ſondern nur ein jeweiliges Herkom-
men (bloßer Beſitzſtand) iſt die Praxis zwiſchen Kirche und
Staat; aber ſie wird durch Unvordenklichkeit oder durch ſtill-
ſchweigende Duldung und fortgeſetzte Befolgung, obgleich
man zu widerſprechen vermochte und ein Intereſſe hatte, zu
einem wirklichen Recht (§. 11.), dem ſich hiernächſt weder
Kirche noch Staat ohne Ungerechtigkeit entziehen darf. Auch
ſind auf dieſem Wege den Staatsgewalten manche Befug-
niſſe zugefallen, die im Mittelalter von der Kirche geübt
oder doch beanſprucht wurden. 2

41. Die nähere praktiſche Geſtaltung der Verhältniſſe des Rö-
miſchen Stuhles, wie ſie ſich theils hiſtoriſch ergeben hat, theils
aus den vorangeführten Quellen begründet werden kann, iſt im
Allgemeinen dieſe:

I. Der Römiſche Oberbiſchof iſt ſowohl eine ſpirituelle Macht
für die ſeiner Kirche zugehörigen Gläubigen, theils eine auf
das ſ. g. Patrimonium Petri durch Schenkungen Pipins und
Carls des Großen, 3 ſo wie durch ſpätere Acceſſionen fun-
1 S. can. 7. D. 11., c. 6. D. 12., c. 4—9. D. 8., c. 1—11. X. de
consuet.
Walter, Kirchenr. §. 62. Richter, Kirchenr. §. 181.
2 Dieſen Geſichtpunct nimmt unter Andern ſchon Petr. de Marca (Erzbi-
ſchof von Paris) de concordia Imp. et sacerd. III, 9, 8. „Conniven-
tia sedis Apostolicae id maxime praestat, ut bona fide Principes in eo
negotio tractando versentur, quod ad se pertinere non improbabili ra-
tione putant, ita ut patientia illa, si necesse sit, vicem privilegii et dis-
pensationis subeat.“
3 Daß die ſ. g. Conſtantiniſche Schenkung unecht ſei, wird jetzt von allen
Seiten zugegeben.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <list>
                  <item><pb facs="#f0099" n="75"/><fw place="top" type="header">§. 41. <hi rendition="#g">Vo&#x0364;lkerrecht im Zu&#x017F;tand des Friedens</hi>.</fw><lb/>
Theile der&#x017F;elben giltig, was &#x017F;ich nicht gegen unabänderliche<lb/>
Regeln und Einrichtungen der Kirche oder wider die Kirche<lb/>
überhaupt geltend machen will. <note place="foot" n="1">S. <hi rendition="#aq">can. 7. D. 11., c. 6. D. 12., c. 4&#x2014;9. D. 8., c. 1&#x2014;11. X. de<lb/>
consuet.</hi> Walter, Kirchenr. §. 62. Richter, Kirchenr. §. 181.</note> So wie ihr nun &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
zu&#x017F;tehen muß, aus ihrem Standpuncte die Zulä&#x017F;&#x017F;igkeit oder<lb/>
Unzulä&#x017F;&#x017F;igkeit eines Herkommens zu prüfen und darüber ein<lb/>
für ihre Glieder verbindliches Urtheil abzugeben, &#x017F;o unleug-<lb/>
bar i&#x017F;t das gleiche Recht des Staates, die auf ein angebli-<lb/>
ches Herkommen von der Kirche gegründeten äußeren An-<lb/>
&#x017F;prüche zu unter&#x017F;uchen und ihnen, wenn &#x017F;ie gegen den Staat<lb/>
an &#x017F;ich oder de&#x017F;&#x017F;en unabänderliche Einrichtungen &#x017F;ind, die<lb/>
Wirk&#x017F;amkeit abzu&#x017F;prechen.</item><lb/>
                  <item><hi rendition="#aq">IV.</hi> Nicht &#x017F;chon wirkliches, &#x017F;ondern nur ein jeweiliges Herkom-<lb/>
men (bloßer Be&#x017F;itz&#x017F;tand) i&#x017F;t die Praxis zwi&#x017F;chen Kirche und<lb/>
Staat; aber &#x017F;ie wird durch Unvordenklichkeit oder durch &#x017F;till-<lb/>
&#x017F;chweigende Duldung und fortge&#x017F;etzte Befolgung, obgleich<lb/>
man zu wider&#x017F;prechen vermochte und ein Intere&#x017F;&#x017F;e hatte, zu<lb/>
einem wirklichen Recht (§. 11.), dem &#x017F;ich hiernäch&#x017F;t weder<lb/>
Kirche noch Staat ohne Ungerechtigkeit entziehen darf. Auch<lb/>
&#x017F;ind auf die&#x017F;em Wege den Staatsgewalten manche Befug-<lb/>
ni&#x017F;&#x017F;e zugefallen, die im Mittelalter von der Kirche geübt<lb/>
oder doch bean&#x017F;prucht wurden. <note place="foot" n="2">Die&#x017F;en Ge&#x017F;ichtpunct nimmt unter Andern &#x017F;chon <hi rendition="#aq">Petr. de Marca</hi> (Erzbi-<lb/>
&#x017F;chof von Paris) <hi rendition="#aq">de concordia Imp. et sacerd. III, 9, 8. &#x201E;Conniven-<lb/>
tia sedis Apostolicae id maxime praestat, ut bona fide Principes in eo<lb/>
negotio tractando versentur, quod ad se pertinere non improbabili ra-<lb/>
tione putant, ita ut patientia illa, si necesse sit, vicem privilegii et dis-<lb/>
pensationis subeat.&#x201C;</hi></note></item>
                </list><lb/>
                <p>41. Die nähere prakti&#x017F;che Ge&#x017F;taltung der Verhältni&#x017F;&#x017F;e des Rö-<lb/>
mi&#x017F;chen Stuhles, wie &#x017F;ie &#x017F;ich theils hi&#x017F;tori&#x017F;ch ergeben hat, theils<lb/>
aus den vorangeführten Quellen begründet werden kann, i&#x017F;t im<lb/>
Allgemeinen die&#x017F;e:</p><lb/>
                <list>
                  <item><hi rendition="#aq">I.</hi> Der Römi&#x017F;che Oberbi&#x017F;chof i&#x017F;t &#x017F;owohl eine &#x017F;pirituelle Macht<lb/>
für die &#x017F;einer Kirche zugehörigen Gläubigen, theils eine auf<lb/>
das &#x017F;. g. Patrimonium Petri durch Schenkungen Pipins und<lb/>
Carls des Großen, <note place="foot" n="3">Daß die &#x017F;. g. Con&#x017F;tantini&#x017F;che Schenkung unecht &#x017F;ei, wird jetzt von allen<lb/>
Seiten zugegeben.</note> &#x017F;o wie durch &#x017F;pätere Acce&#x017F;&#x017F;ionen fun-<lb/></item>
                </list>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[75/0099] §. 41. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens. Theile derſelben giltig, was ſich nicht gegen unabänderliche Regeln und Einrichtungen der Kirche oder wider die Kirche überhaupt geltend machen will. 1 So wie ihr nun ſelbſt zuſtehen muß, aus ihrem Standpuncte die Zuläſſigkeit oder Unzuläſſigkeit eines Herkommens zu prüfen und darüber ein für ihre Glieder verbindliches Urtheil abzugeben, ſo unleug- bar iſt das gleiche Recht des Staates, die auf ein angebli- ches Herkommen von der Kirche gegründeten äußeren An- ſprüche zu unterſuchen und ihnen, wenn ſie gegen den Staat an ſich oder deſſen unabänderliche Einrichtungen ſind, die Wirkſamkeit abzuſprechen. IV. Nicht ſchon wirkliches, ſondern nur ein jeweiliges Herkom- men (bloßer Beſitzſtand) iſt die Praxis zwiſchen Kirche und Staat; aber ſie wird durch Unvordenklichkeit oder durch ſtill- ſchweigende Duldung und fortgeſetzte Befolgung, obgleich man zu widerſprechen vermochte und ein Intereſſe hatte, zu einem wirklichen Recht (§. 11.), dem ſich hiernächſt weder Kirche noch Staat ohne Ungerechtigkeit entziehen darf. Auch ſind auf dieſem Wege den Staatsgewalten manche Befug- niſſe zugefallen, die im Mittelalter von der Kirche geübt oder doch beanſprucht wurden. 2 41. Die nähere praktiſche Geſtaltung der Verhältniſſe des Rö- miſchen Stuhles, wie ſie ſich theils hiſtoriſch ergeben hat, theils aus den vorangeführten Quellen begründet werden kann, iſt im Allgemeinen dieſe: I. Der Römiſche Oberbiſchof iſt ſowohl eine ſpirituelle Macht für die ſeiner Kirche zugehörigen Gläubigen, theils eine auf das ſ. g. Patrimonium Petri durch Schenkungen Pipins und Carls des Großen, 3 ſo wie durch ſpätere Acceſſionen fun- 1 S. can. 7. D. 11., c. 6. D. 12., c. 4—9. D. 8., c. 1—11. X. de consuet. Walter, Kirchenr. §. 62. Richter, Kirchenr. §. 181. 2 Dieſen Geſichtpunct nimmt unter Andern ſchon Petr. de Marca (Erzbi- ſchof von Paris) de concordia Imp. et sacerd. III, 9, 8. „Conniven- tia sedis Apostolicae id maxime praestat, ut bona fide Principes in eo negotio tractando versentur, quod ad se pertinere non improbabili ra- tione putant, ita ut patientia illa, si necesse sit, vicem privilegii et dis- pensationis subeat.“ 3 Daß die ſ. g. Conſtantiniſche Schenkung unecht ſei, wird jetzt von allen Seiten zugegeben.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/99
Zitationshilfe: Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/99>, abgerufen am 27.11.2024.