Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844.

Bild:
<< vorherige Seite

§. 20. Völkerrecht im Zustand des Friedens.
weder durch die zufällige Beherrschung von einem und demselben Sou-
verän (unio personalis), wobei aber jeder Staat dem anderen völ-
lig fremd bleiben und nur Bekriegung des einen durch den anderen
fast undenkbar wird, wenn beide gleich selbständig sind und besonders
der Souverän beide gleich unabhängig regiert; oder die einzelnen
Staaten stehen mit einander selbst in Verbindung, so daß ihre Schick-
sale ganz oder theilweis gemeinsam werden (unio realis). Die ein-
zelnen Abstufungen dabei sind

I. Der incorporirte Staat, wo einer nur das Nebenland (ac-
cessorium)
des anderen ist und der Hauptstaat zugleich über
das Schicksal des Nebenstaates völkerrechtlich mit entschei-
det. In diesem Verhältniß steht meistens der neuere Colo-
nialstaat zu dem Mutterlande.
II. Die Vereinigung nach gleichem Rechte, es sei nun
a) bloß zu einem friedlichen Nebeneinanderbestehen und zu
gemeinsamer Kriegführung oder Erreichung anderer ein-
zelner Zwecke, wie z. B. Norwegen mit Schweden ver-
bunden ist; oder
b) als Vereinigung unter einer und derselben gemeinsamen
Staatsgewalt, welche wiederum auf verschiedene Weise
in rein monarchisch regierten Staaten erscheint, z. B.
in den vereinigten Staaten des Oesterreichischen Kaiser-
hauses, des Neapolitanisch-Bourbonischen Hauses; an-
ders in constitutionellen Staaten, z. B. in dem Verhält-
niß der drei vereinigten Königreiche England, Schott-
land und Ireland; anders endlich in dem demokratischen
Bundes- oder Föderativstaat, d. h. einer Vereini-
gung mehrerer Einzelstaaten zu einem Gesammtstaat, mit
einer das Ganze zusammenfassenden, leitenden und re-
präsentirenden Regierung. Beispiele hierzu lieferte be-
reits die alte Welt, vorzüglich der Achäische Bund; 1
sodann in neuerer Zeit der Nordamerikanische Freistaat, 2
1 Polyb. II, 37, 10. 11. Fr. W. Tittmann, Griech. Staatsverf. 1822
S. 673. Ueberhaupt, S. 667 ff. Sainte Croix, des anciens gouvernem.
federatifs. Strasb. 1800. A. E. Zinserling, le systeme federatif des
anciens mis en parallele avec celui des modernes. Heidelb.
1809.
2 Dessen Verfassung s. in N. Cours de droit politique, par Story, trad.
p. Odent, Par.
1843.
3*

§. 20. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens.
weder durch die zufällige Beherrſchung von einem und demſelben Sou-
verän (unio personalis), wobei aber jeder Staat dem anderen völ-
lig fremd bleiben und nur Bekriegung des einen durch den anderen
faſt undenkbar wird, wenn beide gleich ſelbſtändig ſind und beſonders
der Souverän beide gleich unabhängig regiert; oder die einzelnen
Staaten ſtehen mit einander ſelbſt in Verbindung, ſo daß ihre Schick-
ſale ganz oder theilweis gemeinſam werden (unio realis). Die ein-
zelnen Abſtufungen dabei ſind

I. Der incorporirte Staat, wo einer nur das Nebenland (ac-
cessorium)
des anderen iſt und der Hauptſtaat zugleich über
das Schickſal des Nebenſtaates völkerrechtlich mit entſchei-
det. In dieſem Verhältniß ſteht meiſtens der neuere Colo-
nialſtaat zu dem Mutterlande.
II. Die Vereinigung nach gleichem Rechte, es ſei nun
a) bloß zu einem friedlichen Nebeneinanderbeſtehen und zu
gemeinſamer Kriegführung oder Erreichung anderer ein-
zelner Zwecke, wie z. B. Norwegen mit Schweden ver-
bunden iſt; oder
b) als Vereinigung unter einer und derſelben gemeinſamen
Staatsgewalt, welche wiederum auf verſchiedene Weiſe
in rein monarchiſch regierten Staaten erſcheint, z. B.
in den vereinigten Staaten des Oeſterreichiſchen Kaiſer-
hauſes, des Neapolitaniſch-Bourboniſchen Hauſes; an-
ders in conſtitutionellen Staaten, z. B. in dem Verhält-
niß der drei vereinigten Königreiche England, Schott-
land und Ireland; anders endlich in dem demokratiſchen
Bundes- oder Föderativſtaat, d. h. einer Vereini-
gung mehrerer Einzelſtaaten zu einem Geſammtſtaat, mit
einer das Ganze zuſammenfaſſenden, leitenden und re-
präſentirenden Regierung. Beiſpiele hierzu lieferte be-
reits die alte Welt, vorzüglich der Achäiſche Bund; 1
ſodann in neuerer Zeit der Nordamerikaniſche Freiſtaat, 2
1 Polyb. II, 37, 10. 11. Fr. W. Tittmann, Griech. Staatsverf. 1822
S. 673. Ueberhaupt, S. 667 ff. Sainte Croix, des anciens gouvernem.
fédératifs. Strasb. 1800. A. E. Zinserling, le systême fédératif des
anciens mis en parallèle avec celui des modernes. Heidelb.
1809.
2 Deſſen Verfaſſung ſ. in N. Cours de droit politique, par Story, trad.
p. Odent, Par.
1843.
3*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0059" n="35"/><fw place="top" type="header">§. 20. <hi rendition="#g">Vo&#x0364;lkerrecht im Zu&#x017F;tand des Friedens</hi>.</fw><lb/>
weder durch die zufällige Beherr&#x017F;chung von einem und dem&#x017F;elben Sou-<lb/>
verän <hi rendition="#aq">(unio personalis)</hi>, wobei aber jeder Staat dem anderen völ-<lb/>
lig fremd bleiben und nur Bekriegung des einen durch den anderen<lb/>
fa&#x017F;t undenkbar wird, wenn beide gleich &#x017F;elb&#x017F;tändig &#x017F;ind und be&#x017F;onders<lb/>
der Souverän beide gleich unabhängig regiert; oder die einzelnen<lb/>
Staaten &#x017F;tehen mit einander &#x017F;elb&#x017F;t in Verbindung, &#x017F;o daß ihre Schick-<lb/>
&#x017F;ale ganz oder theilweis gemein&#x017F;am werden <hi rendition="#aq">(unio realis).</hi> Die ein-<lb/>
zelnen Ab&#x017F;tufungen dabei &#x017F;ind</p><lb/>
              <list>
                <item><hi rendition="#aq">I.</hi> Der incorporirte Staat, wo einer nur das Nebenland <hi rendition="#aq">(ac-<lb/>
cessorium)</hi> des anderen i&#x017F;t und der Haupt&#x017F;taat zugleich über<lb/>
das Schick&#x017F;al des Neben&#x017F;taates völkerrechtlich mit ent&#x017F;chei-<lb/>
det. In die&#x017F;em Verhältniß &#x017F;teht mei&#x017F;tens der neuere Colo-<lb/>
nial&#x017F;taat zu dem Mutterlande.</item><lb/>
                <item><hi rendition="#aq">II.</hi> Die Vereinigung nach gleichem Rechte, es &#x017F;ei nun<lb/><list><item><hi rendition="#aq">a)</hi> bloß zu einem friedlichen Nebeneinanderbe&#x017F;tehen und zu<lb/>
gemein&#x017F;amer Kriegführung oder Erreichung anderer ein-<lb/>
zelner Zwecke, wie z. B. Norwegen mit Schweden ver-<lb/>
bunden i&#x017F;t; oder</item><lb/><item><hi rendition="#aq">b)</hi> als Vereinigung unter einer und der&#x017F;elben gemein&#x017F;amen<lb/>
Staatsgewalt, welche wiederum auf ver&#x017F;chiedene Wei&#x017F;e<lb/>
in rein monarchi&#x017F;ch regierten Staaten er&#x017F;cheint, z. B.<lb/>
in den vereinigten Staaten des Oe&#x017F;terreichi&#x017F;chen Kai&#x017F;er-<lb/>
hau&#x017F;es, des Neapolitani&#x017F;ch-Bourboni&#x017F;chen Hau&#x017F;es; an-<lb/>
ders in con&#x017F;titutionellen Staaten, z. B. in dem Verhält-<lb/>
niß der drei vereinigten Königreiche England, Schott-<lb/>
land und Ireland; anders endlich in dem demokrati&#x017F;chen<lb/><hi rendition="#g">Bundes</hi>- oder <hi rendition="#g">Föderativ&#x017F;taat</hi>, d. h. einer Vereini-<lb/>
gung mehrerer Einzel&#x017F;taaten zu einem Ge&#x017F;ammt&#x017F;taat, mit<lb/>
einer das Ganze zu&#x017F;ammenfa&#x017F;&#x017F;enden, leitenden und re-<lb/>
prä&#x017F;entirenden Regierung. Bei&#x017F;piele hierzu lieferte be-<lb/>
reits die alte Welt, vorzüglich der Achäi&#x017F;che Bund; <note place="foot" n="1"><hi rendition="#aq">Polyb. II,</hi> 37, 10. 11. Fr. W. Tittmann, Griech. Staatsverf. 1822<lb/>
S. 673. Ueberhaupt, S. 667 ff. <hi rendition="#aq">Sainte Croix, des anciens gouvernem.<lb/>
fédératifs. Strasb. 1800. A. E. Zinserling, le systême fédératif des<lb/>
anciens mis en parallèle avec celui des modernes. Heidelb.</hi> 1809.</note><lb/>
&#x017F;odann in neuerer Zeit der Nordamerikani&#x017F;che Frei&#x017F;taat, <note place="foot" n="2">De&#x017F;&#x017F;en Verfa&#x017F;&#x017F;ung &#x017F;. in <hi rendition="#aq">N. Cours de droit politique, par Story, trad.<lb/>
p. Odent, Par.</hi> 1843.</note><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">3*</fw><lb/></item></list></item>
              </list>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[35/0059] §. 20. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Friedens. weder durch die zufällige Beherrſchung von einem und demſelben Sou- verän (unio personalis), wobei aber jeder Staat dem anderen völ- lig fremd bleiben und nur Bekriegung des einen durch den anderen faſt undenkbar wird, wenn beide gleich ſelbſtändig ſind und beſonders der Souverän beide gleich unabhängig regiert; oder die einzelnen Staaten ſtehen mit einander ſelbſt in Verbindung, ſo daß ihre Schick- ſale ganz oder theilweis gemeinſam werden (unio realis). Die ein- zelnen Abſtufungen dabei ſind I. Der incorporirte Staat, wo einer nur das Nebenland (ac- cessorium) des anderen iſt und der Hauptſtaat zugleich über das Schickſal des Nebenſtaates völkerrechtlich mit entſchei- det. In dieſem Verhältniß ſteht meiſtens der neuere Colo- nialſtaat zu dem Mutterlande. II. Die Vereinigung nach gleichem Rechte, es ſei nun a) bloß zu einem friedlichen Nebeneinanderbeſtehen und zu gemeinſamer Kriegführung oder Erreichung anderer ein- zelner Zwecke, wie z. B. Norwegen mit Schweden ver- bunden iſt; oder b) als Vereinigung unter einer und derſelben gemeinſamen Staatsgewalt, welche wiederum auf verſchiedene Weiſe in rein monarchiſch regierten Staaten erſcheint, z. B. in den vereinigten Staaten des Oeſterreichiſchen Kaiſer- hauſes, des Neapolitaniſch-Bourboniſchen Hauſes; an- ders in conſtitutionellen Staaten, z. B. in dem Verhält- niß der drei vereinigten Königreiche England, Schott- land und Ireland; anders endlich in dem demokratiſchen Bundes- oder Föderativſtaat, d. h. einer Vereini- gung mehrerer Einzelſtaaten zu einem Geſammtſtaat, mit einer das Ganze zuſammenfaſſenden, leitenden und re- präſentirenden Regierung. Beiſpiele hierzu lieferte be- reits die alte Welt, vorzüglich der Achäiſche Bund; 1 ſodann in neuerer Zeit der Nordamerikaniſche Freiſtaat, 2 1 Polyb. II, 37, 10. 11. Fr. W. Tittmann, Griech. Staatsverf. 1822 S. 673. Ueberhaupt, S. 667 ff. Sainte Croix, des anciens gouvernem. fédératifs. Strasb. 1800. A. E. Zinserling, le systême fédératif des anciens mis en parallèle avec celui des modernes. Heidelb. 1809. 2 Deſſen Verfaſſung ſ. in N. Cours de droit politique, par Story, trad. p. Odent, Par. 1843. 3*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/59
Zitationshilfe: Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/59>, abgerufen am 23.11.2024.