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Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844.

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Einleitung. §. 5.

Bei weitem mehr wurde die neue Pflanze gefährdet durch die
allmählige Verbreitung jener Staatskunst, welche nur den eigenen
Vortheil kennend jedes fremde Recht und Interesse hintansetzt, ohne
in der Wahl der Mittel bedenklich zu sein; einer Politik, die in
Italien geboren und in Spanien mit besonderem Erfolg geübt, fast
bei allen Cabineten einwanderte und, wenn auch nicht zu gleich
positiven Bestrebungen, doch zu ähnlichen Gegenbestrebungen auf-
forderte; einer Politik endlich, die indem sie sich der hergebrachten
Formen mit täuschendem Schein bediente, jeden Grundsatz des
Rechts materiell verleugnete. Als Reaction hiergegen diente die
Idee des s. g. politischen Gleichgewichts, aufgefaßt als das Prin-
cip, daß jede Macht, sei es für sich allein, sei es durch Coalitio-
nen, jede andere Macht an der Erlangung einer Uebergewalt zu
hindern habe, hergeleitet aus dem Recht der Selbsterhaltung, frei-
lich aber auch nicht selten gemißbraucht. Die praktische Durch-
führung dieses Gedankens wurde nun die Hauptaufgabe der Euro-
päischen Politik; 1 in diesem Mittelpunct concentrirt sich seit dem
sechszehnten Jahrhundert beinahe die Anregung und Entwirrung
aller Staatshändel. Das Recht der Nationen und Staaten trat
dabei freilich in den Hintergrund; es war fast nur der wissenschaft-
lichen Pflege überlassen, die sich aber auch, wie früher in der Re-
formationszeit, so von Neuem aus den Gräueln des dreißigjähri-
gen Krieges und des ganzen siebenzehnten Jahrhunderts zu einer
Macht erhob, welcher sich sogar die Gewaltigen nicht ganz entziehen
konnten. Der Aufgangsstern war Hugo Grotius, angehörig einer
kleinen neuentstandenen aber thatenreichen Republik, wo das Sy-
stem der Toleranz und des Moderantismus herrschte, die zugleich
auch der Heerd der Europäischen Diplomatie wurde. Groot rief
mit allgemein verständlicher Sprache die Grundsätze des Christen-
thums, die Lehren der Geschichte, die Aussprüche der Weisen über

gen Türken und Sarazenen sei nur Krieg und was der Krieg nach Röm.
Recht mit sich führe giltig. S. auch Leibnitz, praef. ad Cod. jur. gent.
1 Unter anderem bezieht sich darauf der Gedanke Heinrichs IV. von Frank-
reich, wegen Bildung einer großen Europäischen Staatenrepublik. Das
Nähere davon s. in Toze d. allgem. christl. Republ. Göttingen 1752.
Pläne solcher Art sind selten ohne alle Selbstsucht gemacht worden. Auch
in neuester Zeit haben sie nicht ganz gefehlt. So z. B. G. Fr. Leckie,
historical research into the nature of the balance of power in Europe.
Lond.
1817.
Einleitung. §. 5.

Bei weitem mehr wurde die neue Pflanze gefährdet durch die
allmählige Verbreitung jener Staatskunſt, welche nur den eigenen
Vortheil kennend jedes fremde Recht und Intereſſe hintanſetzt, ohne
in der Wahl der Mittel bedenklich zu ſein; einer Politik, die in
Italien geboren und in Spanien mit beſonderem Erfolg geübt, faſt
bei allen Cabineten einwanderte und, wenn auch nicht zu gleich
poſitiven Beſtrebungen, doch zu ähnlichen Gegenbeſtrebungen auf-
forderte; einer Politik endlich, die indem ſie ſich der hergebrachten
Formen mit täuſchendem Schein bediente, jeden Grundſatz des
Rechts materiell verleugnete. Als Reaction hiergegen diente die
Idee des ſ. g. politiſchen Gleichgewichts, aufgefaßt als das Prin-
cip, daß jede Macht, ſei es für ſich allein, ſei es durch Coalitio-
nen, jede andere Macht an der Erlangung einer Uebergewalt zu
hindern habe, hergeleitet aus dem Recht der Selbſterhaltung, frei-
lich aber auch nicht ſelten gemißbraucht. Die praktiſche Durch-
führung dieſes Gedankens wurde nun die Hauptaufgabe der Euro-
päiſchen Politik; 1 in dieſem Mittelpunct concentrirt ſich ſeit dem
ſechszehnten Jahrhundert beinahe die Anregung und Entwirrung
aller Staatshändel. Das Recht der Nationen und Staaten trat
dabei freilich in den Hintergrund; es war faſt nur der wiſſenſchaft-
lichen Pflege überlaſſen, die ſich aber auch, wie früher in der Re-
formationszeit, ſo von Neuem aus den Gräueln des dreißigjähri-
gen Krieges und des ganzen ſiebenzehnten Jahrhunderts zu einer
Macht erhob, welcher ſich ſogar die Gewaltigen nicht ganz entziehen
konnten. Der Aufgangsſtern war Hugo Grotius, angehörig einer
kleinen neuentſtandenen aber thatenreichen Republik, wo das Sy-
ſtem der Toleranz und des Moderantismus herrſchte, die zugleich
auch der Heerd der Europäiſchen Diplomatie wurde. Groot rief
mit allgemein verſtändlicher Sprache die Grundſätze des Chriſten-
thums, die Lehren der Geſchichte, die Ausſprüche der Weiſen über

gen Türken und Sarazenen ſei nur Krieg und was der Krieg nach Röm.
Recht mit ſich führe giltig. S. auch Leibnitz, praef. ad Cod. jur. gent.
1 Unter anderem bezieht ſich darauf der Gedanke Heinrichs IV. von Frank-
reich, wegen Bildung einer großen Europäiſchen Staatenrepublik. Das
Nähere davon ſ. in Toze d. allgem. chriſtl. Republ. Göttingen 1752.
Pläne ſolcher Art ſind ſelten ohne alle Selbſtſucht gemacht worden. Auch
in neueſter Zeit haben ſie nicht ganz gefehlt. So z. B. G. Fr. Leckie,
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[8/0032] Einleitung. §. 5. Bei weitem mehr wurde die neue Pflanze gefährdet durch die allmählige Verbreitung jener Staatskunſt, welche nur den eigenen Vortheil kennend jedes fremde Recht und Intereſſe hintanſetzt, ohne in der Wahl der Mittel bedenklich zu ſein; einer Politik, die in Italien geboren und in Spanien mit beſonderem Erfolg geübt, faſt bei allen Cabineten einwanderte und, wenn auch nicht zu gleich poſitiven Beſtrebungen, doch zu ähnlichen Gegenbeſtrebungen auf- forderte; einer Politik endlich, die indem ſie ſich der hergebrachten Formen mit täuſchendem Schein bediente, jeden Grundſatz des Rechts materiell verleugnete. Als Reaction hiergegen diente die Idee des ſ. g. politiſchen Gleichgewichts, aufgefaßt als das Prin- cip, daß jede Macht, ſei es für ſich allein, ſei es durch Coalitio- nen, jede andere Macht an der Erlangung einer Uebergewalt zu hindern habe, hergeleitet aus dem Recht der Selbſterhaltung, frei- lich aber auch nicht ſelten gemißbraucht. Die praktiſche Durch- führung dieſes Gedankens wurde nun die Hauptaufgabe der Euro- päiſchen Politik; 1 in dieſem Mittelpunct concentrirt ſich ſeit dem ſechszehnten Jahrhundert beinahe die Anregung und Entwirrung aller Staatshändel. Das Recht der Nationen und Staaten trat dabei freilich in den Hintergrund; es war faſt nur der wiſſenſchaft- lichen Pflege überlaſſen, die ſich aber auch, wie früher in der Re- formationszeit, ſo von Neuem aus den Gräueln des dreißigjähri- gen Krieges und des ganzen ſiebenzehnten Jahrhunderts zu einer Macht erhob, welcher ſich ſogar die Gewaltigen nicht ganz entziehen konnten. Der Aufgangsſtern war Hugo Grotius, angehörig einer kleinen neuentſtandenen aber thatenreichen Republik, wo das Sy- ſtem der Toleranz und des Moderantismus herrſchte, die zugleich auch der Heerd der Europäiſchen Diplomatie wurde. Groot rief mit allgemein verſtändlicher Sprache die Grundſätze des Chriſten- thums, die Lehren der Geſchichte, die Ausſprüche der Weiſen über 4 1 Unter anderem bezieht ſich darauf der Gedanke Heinrichs IV. von Frank- reich, wegen Bildung einer großen Europäiſchen Staatenrepublik. Das Nähere davon ſ. in Toze d. allgem. chriſtl. Republ. Göttingen 1752. Pläne ſolcher Art ſind ſelten ohne alle Selbſtſucht gemacht worden. Auch in neueſter Zeit haben ſie nicht ganz gefehlt. So z. B. G. Fr. Leckie, historical research into the nature of the balance of power in Europe. Lond. 1817. 4 gen Türken und Sarazenen ſei nur Krieg und was der Krieg nach Röm. Recht mit ſich führe giltig. S. auch Leibnitz, praef. ad Cod. jur. gent.

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Zitationshilfe: Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/32>, abgerufen am 27.11.2024.