niß, worin ihr eigener Dichter zu den in ihnen ver- körperten Ideen stand, bezeichnen und den Punct, wo sie formlos geblieben sind, nachweisen sollen.
Goethe hat demnach, um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen, die große Erbschaft der Zeit wohl angetreten, aber nicht verzehrt, er hat wohl erkannt, daß das menschliche Bewußtseyn sich erwei- tern, daß es wieder einen Ring zersprengen will, aber er konnte sich nicht in gläubigem Vertrauen an die Geschichte hingeben, und da er die aus den Uebergangs-Zuständen, in die er in seiner Jugend selbst gewaltsam hingezogen wurde, entspringenden Dissonanzen nicht aufzulösen wußte, so wandte er sich mit Entschiedenheit, ja mit Widerwillen und Ekel, von ihnen ab. Aber diese Zustände waren damit nicht beseitigt, sie dauern fort bis auf den gegenwärtigen Tag, ja sie haben sich gesteigert und alle Schwankungen und Spaltungen in unserem öffentlichen, wie in unserem Privat-Leben, sind auf sie zurück zu führen, auch sind sie keineswegs so unnatürlich, oder auch nur so gefährlich, wie man sie gern machen möchte, denn der Mensch dieses Jahrhunderts will nicht, wie man ihm
niß, worin ihr eigener Dichter zu den in ihnen ver- körperten Ideen ſtand, bezeichnen und den Punct, wo ſie formlos geblieben ſind, nachweiſen ſollen.
Goethe hat demnach, um ſeinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen, die große Erbſchaft der Zeit wohl angetreten, aber nicht verzehrt, er hat wohl erkannt, daß das menſchliche Bewußtſeyn ſich erwei- tern, daß es wieder einen Ring zerſprengen will, aber er konnte ſich nicht in gläubigem Vertrauen an die Geſchichte hingeben, und da er die aus den Uebergangs-Zuſtänden, in die er in ſeiner Jugend ſelbſt gewaltſam hingezogen wurde, entſpringenden Diſſonanzen nicht aufzulöſen wußte, ſo wandte er ſich mit Entſchiedenheit, ja mit Widerwillen und Ekel, von ihnen ab. Aber dieſe Zuſtände waren damit nicht beſeitigt, ſie dauern fort bis auf den gegenwärtigen Tag, ja ſie haben ſich geſteigert und alle Schwankungen und Spaltungen in unſerem öffentlichen, wie in unſerem Privat-Leben, ſind auf ſie zurück zu führen, auch ſind ſie keineswegs ſo unnatürlich, oder auch nur ſo gefährlich, wie man ſie gern machen möchte, denn der Menſch dieſes Jahrhunderts will nicht, wie man ihm
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[VII/0027]
niß, worin ihr eigener Dichter zu den in ihnen ver-
körperten Ideen ſtand, bezeichnen und den Punct,
wo ſie formlos geblieben ſind, nachweiſen ſollen.
Goethe hat demnach, um ſeinen eigenen Ausdruck
zu gebrauchen, die große Erbſchaft der Zeit wohl
angetreten, aber nicht verzehrt, er hat wohl
erkannt, daß das menſchliche Bewußtſeyn ſich erwei-
tern, daß es wieder einen Ring zerſprengen will,
aber er konnte ſich nicht in gläubigem Vertrauen
an die Geſchichte hingeben, und da er die aus den
Uebergangs-Zuſtänden, in die er in ſeiner Jugend
ſelbſt gewaltſam hingezogen wurde, entſpringenden
Diſſonanzen nicht aufzulöſen wußte, ſo wandte er
ſich mit Entſchiedenheit, ja mit Widerwillen und
Ekel, von ihnen ab. Aber dieſe Zuſtände waren
damit nicht beſeitigt, ſie dauern fort bis auf den
gegenwärtigen Tag, ja ſie haben ſich geſteigert und
alle Schwankungen und Spaltungen in unſerem
öffentlichen, wie in unſerem Privat-Leben, ſind auf
ſie zurück zu führen, auch ſind ſie keineswegs ſo
unnatürlich, oder auch nur ſo gefährlich, wie man
ſie gern machen möchte, denn der Menſch dieſes
Jahrhunderts will nicht, wie man ihm
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Hebbel, Friedrich: Maria Magdalene. Hamburg, 1844, S. VII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hebbel_magdalene_1844/27>, abgerufen am 27.07.2024.
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