Hauptmann, Gerhart: Vor Sonnenaufgang. Berlin, 1889. Helene. Nein! das Buch werde ich mir aber nun kaufen. Dient es einem praktischen Zweck? Loth. Einem vernünftigen Zweck überhaupt. Es malt die Menschen nicht wie sie sind, sondern wie sie einmal werden sollen. Es wirkt vorbildlich. Helene (mit Ueberzeugung). Das ist schön. (Kleine Pause, dann.) Vielleicht geben Sie mir Auskunft, man redet so viel von Zola und Ibsen in den Zeitungen: sind das große Dichter? Loth. Es sind gar keine Dichter, sondern noth- wendige Uebel, Fräulein. Ich bin ehrlich durstig und verlange von der Dichtkunst einen klaren, erfrischenden Trunk. -- Ich bin nicht krank. Was Zola und Ibsen bieten, ist Medicin. Helene (gleichsam unwillkürlich). Ach, dann wäre es doch vielleicht für mich etwas. Loth (bisher theilweise, jetzt ausschließlich in den Anblick des thauigen Obstgartens vertieft). Es ist prächtig hier. Sehen Sie, wie die Sonne über der Bergkuppe herauskommt. -- Viel Aepfel giebt es in Ihrem Garten: eine schöne Ernte. Helene. Drei Viertel davon wird auch dies Jahr wieder gestohlen werden. Die Armuth hier herum ist zu groß. Loth. Sie glauben gar nicht, wie sehr ich das Land liebe! Leider wächst mein Weizen zum größten Theile in der Stadt. Aber nun will ich's Mal durch- genießen, das Landleben. Unsereiner hat so'n Bischen Sonne und Frische mehr nöthig, als sonst Jemand. Helene (seufzend). Mehr nöthig, als....inwiefern? Loth. Weil man in einem harten Kampfe steht, dessen Ende man nicht erleben kann. Helene. Stehen wir Anderen nicht in einem solchen Kampfe? Loth. Nein. Helene. Aber -- in einem Kampfe -- stehen wir doch auch?! Loth. Natürlicherweise! aber der kann enden. Helene. Nein! das Buch werde ich mir aber nun kaufen. Dient es einem praktiſchen Zweck? Loth. Einem vernünftigen Zweck überhaupt. Es malt die Menſchen nicht wie ſie ſind, ſondern wie ſie einmal werden ſollen. Es wirkt vorbildlich. Helene (mit Ueberzeugung). Das iſt ſchön. (Kleine Pauſe, dann.) Vielleicht geben Sie mir Auskunft, man redet ſo viel von Zola und Ibſen in den Zeitungen: ſind das große Dichter? Loth. Es ſind gar keine Dichter, ſondern noth- wendige Uebel, Fräulein. Ich bin ehrlich durſtig und verlange von der Dichtkunſt einen klaren, erfriſchenden Trunk. — Ich bin nicht krank. Was Zola und Ibſen bieten, iſt Medicin. Helene (gleichſam unwillkürlich). Ach, dann wäre es doch vielleicht für mich etwas. Loth (bisher theilweiſe, jetzt ausſchließlich in den Anblick des thauigen Obſtgartens vertieft). Es iſt prächtig hier. Sehen Sie, wie die Sonne über der Bergkuppe herauskommt. — Viel Aepfel giebt es in Ihrem Garten: eine ſchöne Ernte. Helene. Drei Viertel davon wird auch dies Jahr wieder geſtohlen werden. Die Armuth hier herum iſt zu groß. Loth. Sie glauben gar nicht, wie ſehr ich das Land liebe! Leider wächſt mein Weizen zum größten Theile in der Stadt. Aber nun will ich's Mal durch- genießen, das Landleben. Unſereiner hat ſo'n Bischen Sonne und Friſche mehr nöthig, als ſonſt Jemand. Helene (ſeufzend). Mehr nöthig, als....inwiefern? Loth. Weil man in einem harten Kampfe ſteht, deſſen Ende man nicht erleben kann. Helene. Stehen wir Anderen nicht in einem ſolchen Kampfe? Loth. Nein. Helene. Aber — in einem Kampfe — ſtehen wir doch auch?! Loth. Natürlicherweiſe! aber der kann enden. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0050" n="44"/> <sp who="#HEL"> <speaker><hi rendition="#g">Helene</hi>.</speaker> <p>Nein! das Buch werde ich mir aber nun<lb/> kaufen. Dient es einem praktiſchen Zweck?</p> </sp><lb/> <sp who="#LOT"> <speaker><hi rendition="#g">Loth</hi>.</speaker> <p>Einem vernünftigen Zweck überhaupt. Es<lb/> malt die Menſchen nicht wie ſie ſind, ſondern wie ſie<lb/> einmal werden ſollen. 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einmal werden ſollen. Es wirkt vorbildlich.
Helene (mit Ueberzeugung). Das iſt ſchön. (Kleine Pauſe,
dann.) Vielleicht geben Sie mir Auskunft, man redet ſo
viel von Zola und Ibſen in den Zeitungen: ſind das
große Dichter?
Loth. Es ſind gar keine Dichter, ſondern noth-
wendige Uebel, Fräulein. Ich bin ehrlich durſtig und
verlange von der Dichtkunſt einen klaren, erfriſchenden
Trunk. — Ich bin nicht krank. Was Zola und Ibſen
bieten, iſt Medicin.
Helene (gleichſam unwillkürlich). Ach, dann wäre es doch
vielleicht für mich etwas.
Loth (bisher theilweiſe, jetzt ausſchließlich in den Anblick des thauigen
Obſtgartens vertieft). Es iſt prächtig hier. Sehen Sie, wie
die Sonne über der Bergkuppe herauskommt. — Viel
Aepfel giebt es in Ihrem Garten: eine ſchöne Ernte.
Helene. Drei Viertel davon wird auch dies Jahr
wieder geſtohlen werden. Die Armuth hier herum iſt
zu groß.
Loth. Sie glauben gar nicht, wie ſehr ich das
Land liebe! Leider wächſt mein Weizen zum größten
Theile in der Stadt. Aber nun will ich's Mal durch-
genießen, das Landleben. Unſereiner hat ſo'n Bischen
Sonne und Friſche mehr nöthig, als ſonſt Jemand.
Helene (ſeufzend). Mehr nöthig, als....inwiefern?
Loth. Weil man in einem harten Kampfe ſteht,
deſſen Ende man nicht erleben kann.
Helene. Stehen wir Anderen nicht in einem
ſolchen Kampfe?
Loth. Nein.
Helene. Aber — in einem Kampfe — ſtehen
wir doch auch?!
Loth. Natürlicherweiſe! aber der kann enden.
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