Hauptmann, Gerhart: Vor Sonnenaufgang. Berlin, 1889. Helene. Guten Morgen! -- Der Wind hat die Schnur hinaufgejagt. Loth. Erlauben Sie! (Geht ebenfalls durch das Pförtchen, bringt die Schnur herunter und zieht den Schlag auf. Die Tauben fliegen aus.) Helene. Ich danke sehr. Loth (ist durch das Pförtchen wieder herausgetreten, bleibt aber außer- halb des Zaunes und an diesen gelehnt stehen. Helene innerhalb desselben. Nach einer kleinen Pause:) Pflegen Sie immer so früh auf zu sein, Fräulein? Helene. Das eben -- wollte ich Sie auch fragen. Loth. Ich --? nein! die erste Nacht in einem fremden Hause passirt es mir jedoch gewöhnlich. Helene. Wie...kommt das? Loth. Ich habe darüber noch nicht nachgedacht, es hat keinen Zweck. Helene. Ach, wieso denn nicht. Loth. Wenigstens keinen ersichtlichen, praktischen Zweck. Helene. Also wenn Sie irgend etwas thun oder denken, muß es einem praktischen Zweck dienen? Loth. Ganz recht! Uebrigens... Helene. Das hätte ich von Ihnen nicht gedacht. Loth. Was, Fräulein? Helene. Genau das meinte die Stiefmutter, als sie mir vorgestern den Werther aus der Hand riß. Loth. Das ist ein dummes Buch. Helene. Sagen Sie das nicht. Loth. Das sage ich nochmal, Fräulein. Es ist ein Buch für Schwächlinge. Helene. Das -- kann wohl möglich sein. Loth. Wie kommen Sie gerade auf dieses Buch? Ist es Ihnen denn verständlich? Helene. Ich hoffe, ich...zum Theil ganz ge- wiß. Es beruhigt so, darin zu lesen. (Nach einer Pause:) Wenn's ein dummes Buch ist, wie Sie sagen, könnten Sie mir etwas Besseres empfehlen? Loth. Le...lesen Sie...noa!...kennen Sie den Kampf um Rom von Dahn? Helene. Guten Morgen! — Der Wind hat die Schnur hinaufgejagt. Loth. Erlauben Sie! (Geht ebenfalls durch das Pförtchen, bringt die Schnur herunter und zieht den Schlag auf. Die Tauben fliegen aus.) Helene. Ich danke ſehr. Loth (iſt durch das Pförtchen wieder herausgetreten, bleibt aber außer- halb des Zaunes und an dieſen gelehnt ſtehen. Helene innerhalb deſſelben. Nach einer kleinen Pauſe:) Pflegen Sie immer ſo früh auf zu ſein, Fräulein? Helene. Das eben — wollte ich Sie auch fragen. Loth. Ich —? nein! die erſte Nacht in einem fremden Hauſe paſſirt es mir jedoch gewöhnlich. Helene. Wie...kommt das? Loth. Ich habe darüber noch nicht nachgedacht, es hat keinen Zweck. Helene. Ach, wieſo denn nicht. Loth. Wenigſtens keinen erſichtlichen, praktiſchen Zweck. Helene. Alſo wenn Sie irgend etwas thun oder denken, muß es einem praktiſchen Zweck dienen? Loth. Ganz recht! Uebrigens... Helene. Das hätte ich von Ihnen nicht gedacht. Loth. Was, Fräulein? Helene. Genau das meinte die Stiefmutter, als ſie mir vorgeſtern den Werther aus der Hand riß. Loth. Das iſt ein dummes Buch. Helene. Sagen Sie das nicht. Loth. Das ſage ich nochmal, Fräulein. Es iſt ein Buch für Schwächlinge. Helene. Das — kann wohl möglich ſein. Loth. Wie kommen Sie gerade auf dieſes Buch? Iſt es Ihnen denn verſtändlich? Helene. Ich hoffe, ich...zum Theil ganz ge- wiß. Es beruhigt ſo, darin zu leſen. (Nach einer Pauſe:) Wenn's ein dummes Buch iſt, wie Sie ſagen, könnten Sie mir etwas Beſſeres empfehlen? Loth. Le...leſen Sie...noa!...kennen Sie den Kampf um Rom von Dahn? <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0049" n="43"/> <sp who="#HEL"> <speaker><hi rendition="#g">Helene</hi>.</speaker> <p>Guten Morgen! — Der Wind hat die<lb/> Schnur hinaufgejagt.</p> </sp><lb/> <sp who="#LOT"> <speaker><hi rendition="#g">Loth</hi>.</speaker> <p>Erlauben Sie! <stage>(Geht ebenfalls durch das Pförtchen,<lb/> bringt die Schnur herunter und zieht den Schlag auf. Die Tauben fliegen aus.)</stage></p> </sp><lb/> <sp who="#HEL"> <speaker><hi rendition="#g">Helene</hi>.</speaker> <p>Ich danke ſehr.</p> </sp><lb/> <sp who="#LOT"> <speaker> <hi rendition="#g">Loth</hi> </speaker> <p><stage>(iſt durch das Pförtchen wieder herausgetreten, bleibt aber außer-<lb/> halb des Zaunes und an dieſen gelehnt ſtehen. 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Loth. Erlauben Sie! (Geht ebenfalls durch das Pförtchen,
bringt die Schnur herunter und zieht den Schlag auf. Die Tauben fliegen aus.)
Helene. Ich danke ſehr.
Loth (iſt durch das Pförtchen wieder herausgetreten, bleibt aber außer-
halb des Zaunes und an dieſen gelehnt ſtehen. Helene innerhalb deſſelben.
Nach einer kleinen Pauſe:) Pflegen Sie immer ſo früh auf zu
ſein, Fräulein?
Helene. Das eben — wollte ich Sie auch fragen.
Loth. Ich —? nein! die erſte Nacht in einem
fremden Hauſe paſſirt es mir jedoch gewöhnlich.
Helene. Wie...kommt das?
Loth. Ich habe darüber noch nicht nachgedacht,
es hat keinen Zweck.
Helene. Ach, wieſo denn nicht.
Loth. Wenigſtens keinen erſichtlichen, praktiſchen Zweck.
Helene. Alſo wenn Sie irgend etwas thun oder
denken, muß es einem praktiſchen Zweck dienen?
Loth. Ganz recht! Uebrigens...
Helene. Das hätte ich von Ihnen nicht gedacht.
Loth. Was, Fräulein?
Helene. Genau das meinte die Stiefmutter, als
ſie mir vorgeſtern den Werther aus der Hand riß.
Loth. Das iſt ein dummes Buch.
Helene. Sagen Sie das nicht.
Loth. Das ſage ich nochmal, Fräulein. Es iſt
ein Buch für Schwächlinge.
Helene. Das — kann wohl möglich ſein.
Loth. Wie kommen Sie gerade auf dieſes Buch?
Iſt es Ihnen denn verſtändlich?
Helene. Ich hoffe, ich...zum Theil ganz ge-
wiß. Es beruhigt ſo, darin zu leſen. (Nach einer Pauſe:)
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Zitationshilfe: | Hauptmann, Gerhart: Vor Sonnenaufgang. Berlin, 1889, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hauptmann_sonnenaufgang_1889/49>, abgerufen am 16.02.2025. |