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Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892.

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Sie hätte nicht gewußt, welche Richtung sie ein¬
schlagen sollte, um seine "Bude", deren Nummer
sie nicht einmal kannte, aufzufinden.

Dadurch, daß er die ihm zu Gebote stehende
Zeit somit gewissenhaft zwischen die Lebende
und Tote zu teilen vermochte, beruhigte Thiel
sein Gewissen in der That.

Oft freilich und besonders in Augenblicken
einsamer Andacht, wenn er recht innig mit der
Verstorbenen verbunden gewesen war, sah er
seinen jetzigen Zustand im Lichte der Wahrheit
und empfand davor Ekel.

Hatte er Tagdienst, so beschränkte sich sein
geistiger Verkehr mit der Verstorbenen auf eine
Menge lieber Erinnerungen aus der Zeit seines
Zusammenlebens mit ihr. Im Dunkel jedoch,
wenn der Schneesturm durch die Kiefern und
über die Strecke raste, in tiefer Mitternacht
beim Scheine seiner Laterne, da wurde das
Wärterhäuschen zur Kapelle.

Eine verblichene Photographie der Ver¬
storbenen vor sich auf dem Tisch, Gesangbuch
und Bibel aufgeschlagen, las und sang er ab¬
wechselnd die lange Nacht hindurch, nur von
den in Zwischenräumen vorbei tobenden Bahn¬

Sie hätte nicht gewußt, welche Richtung ſie ein¬
ſchlagen ſollte, um ſeine „Bude“, deren Nummer
ſie nicht einmal kannte, aufzufinden.

Dadurch, daß er die ihm zu Gebote ſtehende
Zeit ſomit gewiſſenhaft zwiſchen die Lebende
und Tote zu teilen vermochte, beruhigte Thiel
ſein Gewiſſen in der That.

Oft freilich und beſonders in Augenblicken
einſamer Andacht, wenn er recht innig mit der
Verſtorbenen verbunden geweſen war, ſah er
ſeinen jetzigen Zuſtand im Lichte der Wahrheit
und empfand davor Ekel.

Hatte er Tagdienſt, ſo beſchränkte ſich ſein
geiſtiger Verkehr mit der Verſtorbenen auf eine
Menge lieber Erinnerungen aus der Zeit ſeines
Zuſammenlebens mit ihr. Im Dunkel jedoch,
wenn der Schneeſturm durch die Kiefern und
über die Strecke raſte, in tiefer Mitternacht
beim Scheine ſeiner Laterne, da wurde das
Wärterhäuschen zur Kapelle.

Eine verblichene Photographie der Ver¬
ſtorbenen vor ſich auf dem Tiſch, Geſangbuch
und Bibel aufgeſchlagen, las und ſang er ab¬
wechſelnd die lange Nacht hindurch, nur von
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[8/0020] Sie hätte nicht gewußt, welche Richtung ſie ein¬ ſchlagen ſollte, um ſeine „Bude“, deren Nummer ſie nicht einmal kannte, aufzufinden. Dadurch, daß er die ihm zu Gebote ſtehende Zeit ſomit gewiſſenhaft zwiſchen die Lebende und Tote zu teilen vermochte, beruhigte Thiel ſein Gewiſſen in der That. Oft freilich und beſonders in Augenblicken einſamer Andacht, wenn er recht innig mit der Verſtorbenen verbunden geweſen war, ſah er ſeinen jetzigen Zuſtand im Lichte der Wahrheit und empfand davor Ekel. Hatte er Tagdienſt, ſo beſchränkte ſich ſein geiſtiger Verkehr mit der Verſtorbenen auf eine Menge lieber Erinnerungen aus der Zeit ſeines Zuſammenlebens mit ihr. Im Dunkel jedoch, wenn der Schneeſturm durch die Kiefern und über die Strecke raſte, in tiefer Mitternacht beim Scheine ſeiner Laterne, da wurde das Wärterhäuschen zur Kapelle. Eine verblichene Photographie der Ver¬ ſtorbenen vor ſich auf dem Tiſch, Geſangbuch und Bibel aufgeſchlagen, las und ſang er ab¬ wechſelnd die lange Nacht hindurch, nur von den in Zwiſchenräumen vorbei tobenden Bahn¬

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Zitationshilfe: Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hauptmann_bahnwaerter_1892/20>, abgerufen am 22.11.2024.