man ein reizbares Kind, das beim Anblick eines Frem- den sich verkriecht und durchaus nicht zu bewegen ist, ihm die Hand zu reichen, durch ein solches Ver- fahren dazu zwingen will, man den Fehler nur verstärkt.
Sobald ein neuer Fremder kömmt, wird das Kind dessen Erscheinen mit unangenehmen Erinne- rungen verknüpfen und dadurch nur in seiner Men- schenscheu verstärkt werden.
Das Beste ist, man lasse das Kind nur ganz ruhig im Zimmer bleiben und nehme keine weitere Notiz von ihm. Bald wird es die Augen aufschlagen und aus Neugierde nach dem Fremden schauen. Lächelt dieser es freundlich an, wird es schon mehr Zutrauen gewinnen, und sich zuletzt von selbst dem Gegenstande seiner anfänglichen Furcht nähern. Will man gleich anfangs Gewalt brauchen, so muß höchst wahrscheinlich das schreiende Kind hinausgetragen werden, nach einer Scene, die weder für die Han- delnden noch für die Zuschauer angenehm sein kann.
Die Zeit und die Nothwendigkeit, diese großen Lehr- meister, verbessern gewöhnlich den Fehler der Schüch- ternheit, doch bei hohen Graden dieses Uebels läßt es sich weder durch Vernunft noch Uebung bemeistern und ist Schuld, daß mancher verdienstvolle Mann durchaus in der Welt nicht die Rolle spielt, wozu seine Talente ihn berechtigt hätten.
man ein reizbares Kind, das beim Anblick eines Frem- den ſich verkriecht und durchaus nicht zu bewegen iſt, ihm die Hand zu reichen, durch ein ſolches Ver- fahren dazu zwingen will, man den Fehler nur verſtaͤrkt.
Sobald ein neuer Fremder koͤmmt, wird das Kind deſſen Erſcheinen mit unangenehmen Erinne- rungen verknuͤpfen und dadurch nur in ſeiner Men- ſchenſcheu verſtaͤrkt werden.
Das Beſte iſt, man laſſe das Kind nur ganz ruhig im Zimmer bleiben und nehme keine weitere Notiz von ihm. Bald wird es die Augen aufſchlagen und aus Neugierde nach dem Fremden ſchauen. Laͤchelt dieſer es freundlich an, wird es ſchon mehr Zutrauen gewinnen, und ſich zuletzt von ſelbſt dem Gegenſtande ſeiner anfaͤnglichen Furcht naͤhern. Will man gleich anfangs Gewalt brauchen, ſo muß hoͤchſt wahrſcheinlich das ſchreiende Kind hinausgetragen werden, nach einer Scene, die weder fuͤr die Han- delnden noch fuͤr die Zuſchauer angenehm ſein kann.
Die Zeit und die Nothwendigkeit, dieſe großen Lehr- meiſter, verbeſſern gewoͤhnlich den Fehler der Schuͤch- ternheit, doch bei hohen Graden dieſes Uebels laͤßt es ſich weder durch Vernunft noch Uebung bemeiſtern und iſt Schuld, daß mancher verdienſtvolle Mann durchaus in der Welt nicht die Rolle ſpielt, wozu ſeine Talente ihn berechtigt haͤtten.
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man ein reizbares Kind, das beim Anblick eines Frem-
den ſich verkriecht und durchaus nicht zu bewegen
iſt, ihm die Hand zu reichen, durch ein ſolches Ver-
fahren dazu zwingen will, man den Fehler nur verſtaͤrkt.
Sobald ein neuer Fremder koͤmmt, wird das
Kind deſſen Erſcheinen mit unangenehmen Erinne-
rungen verknuͤpfen und dadurch nur in ſeiner Men-
ſchenſcheu verſtaͤrkt werden.
Das Beſte iſt, man laſſe das Kind nur ganz
ruhig im Zimmer bleiben und nehme keine weitere
Notiz von ihm. Bald wird es die Augen aufſchlagen
und aus Neugierde nach dem Fremden ſchauen.
Laͤchelt dieſer es freundlich an, wird es ſchon mehr
Zutrauen gewinnen, und ſich zuletzt von ſelbſt dem
Gegenſtande ſeiner anfaͤnglichen Furcht naͤhern. Will
man gleich anfangs Gewalt brauchen, ſo muß hoͤchſt
wahrſcheinlich das ſchreiende Kind hinausgetragen
werden, nach einer Scene, die weder fuͤr die Han-
delnden noch fuͤr die Zuſchauer angenehm ſein kann.
Die Zeit und die Nothwendigkeit, dieſe großen Lehr-
meiſter, verbeſſern gewoͤhnlich den Fehler der Schuͤch-
ternheit, doch bei hohen Graden dieſes Uebels laͤßt
es ſich weder durch Vernunft noch Uebung bemeiſtern
und iſt Schuld, daß mancher verdienſtvolle Mann
durchaus in der Welt nicht die Rolle ſpielt, wozu
ſeine Talente ihn berechtigt haͤtten.
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Hartwig, Georg Ludwig: Die physische Erziehung der Kinder. Düsseldorf, 1847, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hartwig_erziehung_1847/169>, abgerufen am 16.02.2025.
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