Hartmann, Moritz: Das Schloß im Gebirge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [221]–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.nicht leben. Dieselben Kinder, welche die Eltern des Elendes wegen in die Fremde schicken, kehren in einem gewissen Alter wieder in die Heimath zurück, die einen arm wie sie gegangen, die andern reich wie irgend ein Pariser -- aber arm oder reich, sie kehren eben wieder; sie können ohne Savoyen nicht leben. Sie können sich selbst davon überzeugen. Sprechen Sie im nächsten Dorfe den ersten besten armen Mann an, und er wird Ihnen sagen, daß er zwanzig und dreißig Jahre in der Fremde, in Paris, Marseille, Brüssel zugebracht, und kaum eine Stunde von hier können Sie ein prächtiges Schloß sehen, das einem Manne gehört, der vor sechzig Jahren mit einem Murmelthiere als seiner ganzen Habe von hier fortgezogen. Es ist Monsieur Laurens, einer der reichsten Leute des Landes; er soll Millionen besitzen. Gut! führen Sie mich nach diesem Schlosse. Die Schlucht erweiterte sich nach und nach, und wir kamen, immer steigend, in ein längliches Kesselthal, auf dem die Sonne lag, und von dessen Sohle aus sich hübsche Matten ziemlich hoch die Abhänge hinan erstreckten. Ueberall sonst würde auch dieses Thal, in das von der Höhe kahle Felsen und kalte Schneeberge blickten, einen traurigen Eindruck gemacht haben, nach der Schlucht aber, die wir seit zwei Stunden durchwanderten, erschien es wie eine der glücklichsten Inseln. Die angenehme Täuschung, die der Anblick dieses Thales hervorbrachte, und der Contrast, den nicht leben. Dieselben Kinder, welche die Eltern des Elendes wegen in die Fremde schicken, kehren in einem gewissen Alter wieder in die Heimath zurück, die einen arm wie sie gegangen, die andern reich wie irgend ein Pariser — aber arm oder reich, sie kehren eben wieder; sie können ohne Savoyen nicht leben. Sie können sich selbst davon überzeugen. Sprechen Sie im nächsten Dorfe den ersten besten armen Mann an, und er wird Ihnen sagen, daß er zwanzig und dreißig Jahre in der Fremde, in Paris, Marseille, Brüssel zugebracht, und kaum eine Stunde von hier können Sie ein prächtiges Schloß sehen, das einem Manne gehört, der vor sechzig Jahren mit einem Murmelthiere als seiner ganzen Habe von hier fortgezogen. Es ist Monsieur Laurens, einer der reichsten Leute des Landes; er soll Millionen besitzen. Gut! führen Sie mich nach diesem Schlosse. Die Schlucht erweiterte sich nach und nach, und wir kamen, immer steigend, in ein längliches Kesselthal, auf dem die Sonne lag, und von dessen Sohle aus sich hübsche Matten ziemlich hoch die Abhänge hinan erstreckten. Ueberall sonst würde auch dieses Thal, in das von der Höhe kahle Felsen und kalte Schneeberge blickten, einen traurigen Eindruck gemacht haben, nach der Schlucht aber, die wir seit zwei Stunden durchwanderten, erschien es wie eine der glücklichsten Inseln. Die angenehme Täuschung, die der Anblick dieses Thales hervorbrachte, und der Contrast, den <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="0"> <p><pb facs="#f0011"/> nicht leben. Dieselben Kinder, welche die Eltern des Elendes wegen in die Fremde schicken, kehren in einem gewissen Alter wieder in die Heimath zurück, die einen arm wie sie gegangen, die andern reich wie irgend ein Pariser — aber arm oder reich, sie kehren eben wieder; sie können ohne Savoyen nicht leben. Sie können sich selbst davon überzeugen. Sprechen Sie im nächsten Dorfe den ersten besten armen Mann an, und er wird Ihnen sagen, daß er zwanzig und dreißig Jahre in der Fremde, in Paris, Marseille, Brüssel zugebracht, und kaum eine Stunde von hier können Sie ein prächtiges Schloß sehen, das einem Manne gehört, der vor sechzig Jahren mit einem Murmelthiere als seiner ganzen Habe von hier fortgezogen. Es ist Monsieur Laurens, einer der reichsten Leute des Landes; er soll Millionen besitzen.</p><lb/> <p>Gut! führen Sie mich nach diesem Schlosse.</p><lb/> <p>Die Schlucht erweiterte sich nach und nach, und wir kamen, immer steigend, in ein längliches Kesselthal, auf dem die Sonne lag, und von dessen Sohle aus sich hübsche Matten ziemlich hoch die Abhänge hinan erstreckten. Ueberall sonst würde auch dieses Thal, in das von der Höhe kahle Felsen und kalte Schneeberge blickten, einen traurigen Eindruck gemacht haben, nach der Schlucht aber, die wir seit zwei Stunden durchwanderten, erschien es wie eine der glücklichsten Inseln. Die angenehme Täuschung, die der Anblick dieses Thales hervorbrachte, und der Contrast, den<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0011]
nicht leben. Dieselben Kinder, welche die Eltern des Elendes wegen in die Fremde schicken, kehren in einem gewissen Alter wieder in die Heimath zurück, die einen arm wie sie gegangen, die andern reich wie irgend ein Pariser — aber arm oder reich, sie kehren eben wieder; sie können ohne Savoyen nicht leben. Sie können sich selbst davon überzeugen. Sprechen Sie im nächsten Dorfe den ersten besten armen Mann an, und er wird Ihnen sagen, daß er zwanzig und dreißig Jahre in der Fremde, in Paris, Marseille, Brüssel zugebracht, und kaum eine Stunde von hier können Sie ein prächtiges Schloß sehen, das einem Manne gehört, der vor sechzig Jahren mit einem Murmelthiere als seiner ganzen Habe von hier fortgezogen. Es ist Monsieur Laurens, einer der reichsten Leute des Landes; er soll Millionen besitzen.
Gut! führen Sie mich nach diesem Schlosse.
Die Schlucht erweiterte sich nach und nach, und wir kamen, immer steigend, in ein längliches Kesselthal, auf dem die Sonne lag, und von dessen Sohle aus sich hübsche Matten ziemlich hoch die Abhänge hinan erstreckten. Ueberall sonst würde auch dieses Thal, in das von der Höhe kahle Felsen und kalte Schneeberge blickten, einen traurigen Eindruck gemacht haben, nach der Schlucht aber, die wir seit zwei Stunden durchwanderten, erschien es wie eine der glücklichsten Inseln. Die angenehme Täuschung, die der Anblick dieses Thales hervorbrachte, und der Contrast, den
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(2017-03-15T10:58:35Z)
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Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
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