Hartmann, Moritz: Das Schloß im Gebirge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [221]–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.ein Seitenthal ab, das mich mit seinen kahlen, abschüssigen, himmelhohen Felswänden anlockte. Der Bach braus'te tief unter uns, während wir auf einem feuchten, nur einige Stunden im Jahre von der Sonne beschienenen Wege dahingingen. Die wenigen Pflanzen, die mit kümmerlichen Wurzeln an den Felsen hingen, sahen aus wie Kellerpflanzen. Der Weg selbst, zum großen Theil künstlich angelegt, war feucht und schlüpfrig; über den sumpfigen Rissen, die ihn unterbrachen, lagen Balken, die, faul und verwittert, unter uns zusammenzubrechen drohten. Ein solcher Weg konnte nicht in einen glücklichen Winkel führen, und in der That mündete er auf ein Dorf, in dem sich Elend und Cretinismus brüderlich neben einander niedergelassen hatten. Ich will dieses Dorf nicht weiter beschreiben, ich hätte nur Häßliches, Abstoßendes, ja Schlimmeres zu sagen. Mein Führer sagte mir, daß wir uns hier in einem der Thäler befinden, die alljährlich die größte Zahl von Knaben und Mädchen in die Welt schicken, damit sie in der Ferne, auf welche Art immer, ihr Brod suchen. Sie sehen ein, fügte er hinzu, daß diese Gegend nicht gemacht ist, auch nur eine dünne Bevölkerung zu ernähren, selbst die Ziegen sterben hier Hungers. -- Das sehe ich wohl ein, erwiderte ich, was ich aber nicht begreife, ist, daß sie überhaupt noch bevölkert ist, daß hier nicht längst alle Einwohner ausgewandert sind. Ja, lachte der Mann, das ist eben unsere Narrheit, wir können ohne dieses Land ein Seitenthal ab, das mich mit seinen kahlen, abschüssigen, himmelhohen Felswänden anlockte. Der Bach braus'te tief unter uns, während wir auf einem feuchten, nur einige Stunden im Jahre von der Sonne beschienenen Wege dahingingen. Die wenigen Pflanzen, die mit kümmerlichen Wurzeln an den Felsen hingen, sahen aus wie Kellerpflanzen. Der Weg selbst, zum großen Theil künstlich angelegt, war feucht und schlüpfrig; über den sumpfigen Rissen, die ihn unterbrachen, lagen Balken, die, faul und verwittert, unter uns zusammenzubrechen drohten. Ein solcher Weg konnte nicht in einen glücklichen Winkel führen, und in der That mündete er auf ein Dorf, in dem sich Elend und Cretinismus brüderlich neben einander niedergelassen hatten. Ich will dieses Dorf nicht weiter beschreiben, ich hätte nur Häßliches, Abstoßendes, ja Schlimmeres zu sagen. Mein Führer sagte mir, daß wir uns hier in einem der Thäler befinden, die alljährlich die größte Zahl von Knaben und Mädchen in die Welt schicken, damit sie in der Ferne, auf welche Art immer, ihr Brod suchen. Sie sehen ein, fügte er hinzu, daß diese Gegend nicht gemacht ist, auch nur eine dünne Bevölkerung zu ernähren, selbst die Ziegen sterben hier Hungers. — Das sehe ich wohl ein, erwiderte ich, was ich aber nicht begreife, ist, daß sie überhaupt noch bevölkert ist, daß hier nicht längst alle Einwohner ausgewandert sind. Ja, lachte der Mann, das ist eben unsere Narrheit, wir können ohne dieses Land <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="0"> <p><pb facs="#f0010"/> ein Seitenthal ab, das mich mit seinen kahlen, abschüssigen, himmelhohen Felswänden anlockte. Der Bach braus'te tief unter uns, während wir auf einem feuchten, nur einige Stunden im Jahre von der Sonne beschienenen Wege dahingingen. Die wenigen Pflanzen, die mit kümmerlichen Wurzeln an den Felsen hingen, sahen aus wie Kellerpflanzen. Der Weg selbst, zum großen Theil künstlich angelegt, war feucht und schlüpfrig; über den sumpfigen Rissen, die ihn unterbrachen, lagen Balken, die, faul und verwittert, unter uns zusammenzubrechen drohten. Ein solcher Weg konnte nicht in einen glücklichen Winkel führen, und in der That mündete er auf ein Dorf, in dem sich Elend und Cretinismus brüderlich neben einander niedergelassen hatten. Ich will dieses Dorf nicht weiter beschreiben, ich hätte nur Häßliches, Abstoßendes, ja Schlimmeres zu sagen. Mein Führer sagte mir, daß wir uns hier in einem der Thäler befinden, die alljährlich die größte Zahl von Knaben und Mädchen in die Welt schicken, damit sie in der Ferne, auf welche Art immer, ihr Brod suchen. Sie sehen ein, fügte er hinzu, daß diese Gegend nicht gemacht ist, auch nur eine dünne Bevölkerung zu ernähren, selbst die Ziegen sterben hier Hungers. — Das sehe ich wohl ein, erwiderte ich, was ich aber nicht begreife, ist, daß sie überhaupt noch bevölkert ist, daß hier nicht längst alle Einwohner ausgewandert sind. Ja, lachte der Mann, das ist eben unsere Narrheit, wir können ohne dieses Land<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0010]
ein Seitenthal ab, das mich mit seinen kahlen, abschüssigen, himmelhohen Felswänden anlockte. Der Bach braus'te tief unter uns, während wir auf einem feuchten, nur einige Stunden im Jahre von der Sonne beschienenen Wege dahingingen. Die wenigen Pflanzen, die mit kümmerlichen Wurzeln an den Felsen hingen, sahen aus wie Kellerpflanzen. Der Weg selbst, zum großen Theil künstlich angelegt, war feucht und schlüpfrig; über den sumpfigen Rissen, die ihn unterbrachen, lagen Balken, die, faul und verwittert, unter uns zusammenzubrechen drohten. Ein solcher Weg konnte nicht in einen glücklichen Winkel führen, und in der That mündete er auf ein Dorf, in dem sich Elend und Cretinismus brüderlich neben einander niedergelassen hatten. Ich will dieses Dorf nicht weiter beschreiben, ich hätte nur Häßliches, Abstoßendes, ja Schlimmeres zu sagen. Mein Führer sagte mir, daß wir uns hier in einem der Thäler befinden, die alljährlich die größte Zahl von Knaben und Mädchen in die Welt schicken, damit sie in der Ferne, auf welche Art immer, ihr Brod suchen. Sie sehen ein, fügte er hinzu, daß diese Gegend nicht gemacht ist, auch nur eine dünne Bevölkerung zu ernähren, selbst die Ziegen sterben hier Hungers. — Das sehe ich wohl ein, erwiderte ich, was ich aber nicht begreife, ist, daß sie überhaupt noch bevölkert ist, daß hier nicht längst alle Einwohner ausgewandert sind. Ja, lachte der Mann, das ist eben unsere Narrheit, wir können ohne dieses Land
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Zitationshilfe: | Hartmann, Moritz: Das Schloß im Gebirge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [221]–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hartmann_gebirge_1910/10>, abgerufen am 16.02.2025. |