daß er sowohl demselben, als seinen Freunden, das Le- ben schenkte, und der Sultan selbst konnte sich nicht der Thränen enthalten (m).
Mir scheint die Sache selbst nicht eben unbegreiflich zu sein. Die Menschen pflegen, von der Natur selbst unterrichtet, ihre Freude mit hurtigen und geschwinden Thönen, die Traurigkeit hingegen durch langsame und grobe Thöne ausdrükken; so wie sie, wenn sie lustig sind, die Stirn entfalten, und im Zorne runzeln. Folglich bringen, nach dem Gesezze der Erinnerung (n), geschwinde Thöne im Gehirn und in der Seele denjeni- gen Zustand wieder hervor, dessen Zeichen diese ge- schwinde Thöne sind, so wie die groben ebenfalls den Gemüthszustand auffrischen, welcher sich durch grobe Thöne verräth (o); so wie überhaupt die Geberden der Pantomimen blos durch die Erneuerung der Jdeen bei den Alten fröhliche, verliebte und traurige Af- fekten entstehen liessen.
Man lieset endlich hie und da, daß verschiedene Krank- heiten durch die Thonkunst geheilet worden, und dieses bezeugen auch grosse Schriftsteller; dergleichen ist der Wahnwizz (p), die Raserei (q); und man pflegt hieher das Exempel der von der Tarantel gebissenen Kranken zu rechnen (r), welche blos durch gewisse Thöne zum Tanzen aufgefordert, und geheilet würden. Doch es hat der Tarantelbiß keine dergleichen Kräfte, indem der berühmte Köhler(s) vorlängst gezeiget hat, daß
diese
(m)[Spaltenumbruch]D. CANTEMIER in hi- storia Turcica.
(n) Hiervon besiehe L. XVII.
(o) Allerlei erzählet davon NI- COLAI von der Musik n. 25. add. GUNZ l. c. ROGER p. 93. MA- LONIN ergo ad sanit. de Music.
(p)Hist. de l'Academie 1707. p. 7. 1708. p. 23.
(q)[Spaltenumbruch]
Die vom Bisse des tollen Hundes entstanden. HUNAULD de la raye p. 306.
(r)Hist. de l'Acad. 1702. p. 16.
(s)In swenska Acad. hand- ling 1758. Trim. I. p. 34. &c. Die Tarantelkrankheit rechnet BROGIANI anim. venen. zur Schwermuth p. 63. 64. zum me-
lancho-
Y y 2
III. Abſchnitt. Werkzeug.
daß er ſowohl demſelben, als ſeinen Freunden, das Le- ben ſchenkte, und der Sultan ſelbſt konnte ſich nicht der Thraͤnen enthalten (m).
Mir ſcheint die Sache ſelbſt nicht eben unbegreiflich zu ſein. Die Menſchen pflegen, von der Natur ſelbſt unterrichtet, ihre Freude mit hurtigen und geſchwinden Thoͤnen, die Traurigkeit hingegen durch langſame und grobe Thoͤne ausdruͤkken; ſo wie ſie, wenn ſie luſtig ſind, die Stirn entfalten, und im Zorne runzeln. Folglich bringen, nach dem Geſezze der Erinnerung (n), geſchwinde Thoͤne im Gehirn und in der Seele denjeni- gen Zuſtand wieder hervor, deſſen Zeichen dieſe ge- ſchwinde Thoͤne ſind, ſo wie die groben ebenfalls den Gemuͤthszuſtand auffriſchen, welcher ſich durch grobe Thoͤne verraͤth (o); ſo wie uͤberhaupt die Geberden der Pantomimen blos durch die Erneuerung der Jdeen bei den Alten froͤhliche, verliebte und traurige Af- fekten entſtehen lieſſen.
Man lieſet endlich hie und da, daß verſchiedene Krank- heiten durch die Thonkunſt geheilet worden, und dieſes bezeugen auch groſſe Schriftſteller; dergleichen iſt der Wahnwizz (p), die Raſerei (q); und man pflegt hieher das Exempel der von der Tarantel gebiſſenen Kranken zu rechnen (r), welche blos durch gewiſſe Thoͤne zum Tanzen aufgefordert, und geheilet wuͤrden. Doch es hat der Tarantelbiß keine dergleichen Kraͤfte, indem der beruͤhmte Koͤhler(s) vorlaͤngſt gezeiget hat, daß
dieſe
(m)[Spaltenumbruch]D. CANTEMIER in hi- ſtoria Turcica.
(n) Hiervon beſiehe L. XVII.
(o) Allerlei erzaͤhlet davon NI- COLAI von der Muſik n. 25. add. GUNZ l. c. ROGER p. 93. MA- LONIN ergo ad ſanit. de Muſic.
(p)Hiſt. de l’Academie 1707. p. 7. 1708. p. 23.
(q)[Spaltenumbruch]
Die vom Biſſe des tollen Hundes entſtanden. HUNAULD de la raye p. 306.
(r)Hiſt. de l’Acad. 1702. p. 16.
(s)In ſwenska Acad. hand- ling 1758. Trim. I. p. 34. &c. Die Tarantelkrankheit rechnet BROGIANI anim. venen. zur Schwermuth p. 63. 64. zum me-
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III. Abſchnitt. Werkzeug.
daß er ſowohl demſelben, als ſeinen Freunden, das Le-
ben ſchenkte, und der Sultan ſelbſt konnte ſich nicht
der Thraͤnen enthalten (m).
Mir ſcheint die Sache ſelbſt nicht eben unbegreiflich
zu ſein. Die Menſchen pflegen, von der Natur ſelbſt
unterrichtet, ihre Freude mit hurtigen und geſchwinden
Thoͤnen, die Traurigkeit hingegen durch langſame und
grobe Thoͤne ausdruͤkken; ſo wie ſie, wenn ſie luſtig
ſind, die Stirn entfalten, und im Zorne runzeln.
Folglich bringen, nach dem Geſezze der Erinnerung (n),
geſchwinde Thoͤne im Gehirn und in der Seele denjeni-
gen Zuſtand wieder hervor, deſſen Zeichen dieſe ge-
ſchwinde Thoͤne ſind, ſo wie die groben ebenfalls den
Gemuͤthszuſtand auffriſchen, welcher ſich durch grobe
Thoͤne verraͤth (o); ſo wie uͤberhaupt die Geberden der
Pantomimen blos durch die Erneuerung der Jdeen
bei den Alten froͤhliche, verliebte und traurige Af-
fekten entſtehen lieſſen.
Man lieſet endlich hie und da, daß verſchiedene Krank-
heiten durch die Thonkunſt geheilet worden, und dieſes
bezeugen auch groſſe Schriftſteller; dergleichen iſt der
Wahnwizz (p), die Raſerei (q); und man pflegt hieher
das Exempel der von der Tarantel gebiſſenen Kranken
zu rechnen (r), welche blos durch gewiſſe Thoͤne zum
Tanzen aufgefordert, und geheilet wuͤrden. Doch es
hat der Tarantelbiß keine dergleichen Kraͤfte, indem
der beruͤhmte Koͤhler (s) vorlaͤngſt gezeiget hat, daß
dieſe
(m)
D. CANTEMIER in hi-
ſtoria Turcica.
(n) Hiervon beſiehe L. XVII.
(o) Allerlei erzaͤhlet davon NI-
COLAI von der Muſik n. 25. add.
GUNZ l. c. ROGER p. 93. MA-
LONIN ergo ad ſanit. de Muſic.
(p) Hiſt. de l’Academie 1707.
p. 7. 1708. p. 23.
(q)
Die vom Biſſe des tollen
Hundes entſtanden. HUNAULD
de la raye p. 306.
(r) Hiſt. de l’Acad. 1702. p. 16.
(s) In ſwenska Acad. hand-
ling 1758. Trim. I. p. 34. &c.
Die Tarantelkrankheit rechnet
BROGIANI anim. venen. zur
Schwermuth p. 63. 64. zum me-
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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 707. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/725>, abgerufen am 22.11.2024.
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