Gehirn entstandene Jdee, wie ein vor den Augen schwe- bendes Bild (p), eine ob wol sehr kurze Zeit lang, und sie hinterläst eine schwächere Empfindung von sich übrig, wenn eine neue auftritt, welche nun die Seele mit aller Lebhaftigkeit beschäftigt. Nach diesem erstern schwächern Bilde, und dem gegenwärtigen starken, urtheilt die Seele durch Vergleichungen: endlich scheinet die Empfindung einer Jdee, die vormals unser war, und die nicht eben jezzt entstanden ist, wovon die Empfindung der eignen Persönlichkeit abhängt (q), gar nicht unterschieden zu sein, von einer Jdee selbst (r), welche erneuret wird; sondern daß überhaupt eine wieder erneuerte Jdee anders, eine neue anders empfunden werde, und daß die Seele nach Bemerckung dieses Unterscheides, wie bei andern Urthei- len, empfinde, sie habe jene lange schon gekannt, und diese kenne sie nur seit kurzen. Jn den mathematischen Beweisen ziehen wir alles vorhin erklärte, in einen einzi- gen Sazz zusammen, den wir als ein Axioma betrachten, und dieses beziehet sich auf das Exempel zwoer Jdeen, wel- che wir vergleichen. Es hat auch zwischen dem Berüh- ren und Empfinden: zwischen dem Willen und der im Körper dadurch entstandenen Bewegung, der berühmte Eberhard eine kleine Zeitfolge erfunden (s). Noch un- terdrükkt eine grössere Empfindung die kleinere (t); und sie würde solches nicht thun, wenn beide Plazz hätten.
Welche der Seele viel zuschreiben, übersteigen doch nicht (u) die Zahl der fünf oder sechs Jdeen, welche sich die Seele zu gleicher Zeit vorstellt. Wollten sie aber die Probe mit sich selbst machen, so würden sie, wie ich da- vor halte, finden, daß eine darunter die herrschende un- ter den übrigen sei, und die andren an Lebhaftigkeit über- treffe.
Wenn
(p)[Spaltenumbruch]L. XVI. p. 280 281.
(q)BONNET p. 147. 170.
(r)Histoire de l'ame p. 117.
(s)[Spaltenumbruch]Physiolog p. 269.
(t)WOLF l. c. p. 47.
(u)BONNET p. 333.
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I. Abſchnitt. Der Verſtand.
Gehirn entſtandene Jdee, wie ein vor den Augen ſchwe- bendes Bild (p), eine ob wol ſehr kurze Zeit lang, und ſie hinterlaͤſt eine ſchwaͤchere Empfindung von ſich uͤbrig, wenn eine neue auftritt, welche nun die Seele mit aller Lebhaftigkeit beſchaͤftigt. Nach dieſem erſtern ſchwaͤchern Bilde, und dem gegenwaͤrtigen ſtarken, urtheilt die Seele durch Vergleichungen: endlich ſcheinet die Empfindung einer Jdee, die vormals unſer war, und die nicht eben jezzt entſtanden iſt, wovon die Empfindung der eignen Perſoͤnlichkeit abhaͤngt (q), gar nicht unterſchieden zu ſein, von einer Jdee ſelbſt (r), welche erneuret wird; ſondern daß uͤberhaupt eine wieder erneuerte Jdee anders, eine neue anders empfunden werde, und daß die Seele nach Bemerckung dieſes Unterſcheides, wie bei andern Urthei- len, empfinde, ſie habe jene lange ſchon gekannt, und dieſe kenne ſie nur ſeit kurzen. Jn den mathematiſchen Beweiſen ziehen wir alles vorhin erklaͤrte, in einen einzi- gen Sazz zuſammen, den wir als ein Axioma betrachten, und dieſes beziehet ſich auf das Exempel zwoer Jdeen, wel- che wir vergleichen. Es hat auch zwiſchen dem Beruͤh- ren und Empfinden: zwiſchen dem Willen und der im Koͤrper dadurch entſtandenen Bewegung, der beruͤhmte Eberhard eine kleine Zeitfolge erfunden (s). Noch un- terdruͤkkt eine groͤſſere Empfindung die kleinere (t); und ſie wuͤrde ſolches nicht thun, wenn beide Plazz haͤtten.
Welche der Seele viel zuſchreiben, uͤberſteigen doch nicht (u) die Zahl der fuͤnf oder ſechs Jdeen, welche ſich die Seele zu gleicher Zeit vorſtellt. Wollten ſie aber die Probe mit ſich ſelbſt machen, ſo wuͤrden ſie, wie ich da- vor halte, finden, daß eine darunter die herrſchende un- ter den uͤbrigen ſei, und die andren an Lebhaftigkeit uͤber- treffe.
Wenn
(p)[Spaltenumbruch]L. XVI. p. 280 281.
(q)BONNET p. 147. 170.
(r)Hiſtoire de l’ame p. 117.
(s)[Spaltenumbruch]Phyſiolog p. 269.
(t)WOLF l. c. p. 47.
(u)BONNET p. 333.
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I. Abſchnitt. Der Verſtand.
Gehirn entſtandene Jdee, wie ein vor den Augen ſchwe-
bendes Bild (p), eine ob wol ſehr kurze Zeit lang, und
ſie hinterlaͤſt eine ſchwaͤchere Empfindung von ſich uͤbrig,
wenn eine neue auftritt, welche nun die Seele mit aller
Lebhaftigkeit beſchaͤftigt. Nach dieſem erſtern ſchwaͤchern
Bilde, und dem gegenwaͤrtigen ſtarken, urtheilt die Seele
durch Vergleichungen: endlich ſcheinet die Empfindung
einer Jdee, die vormals unſer war, und die nicht eben
jezzt entſtanden iſt, wovon die Empfindung der eignen
Perſoͤnlichkeit abhaͤngt (q), gar nicht unterſchieden zu ſein,
von einer Jdee ſelbſt (r), welche erneuret wird; ſondern
daß uͤberhaupt eine wieder erneuerte Jdee anders, eine
neue anders empfunden werde, und daß die Seele nach
Bemerckung dieſes Unterſcheides, wie bei andern Urthei-
len, empfinde, ſie habe jene lange ſchon gekannt, und
dieſe kenne ſie nur ſeit kurzen. Jn den mathematiſchen
Beweiſen ziehen wir alles vorhin erklaͤrte, in einen einzi-
gen Sazz zuſammen, den wir als ein Axioma betrachten,
und dieſes beziehet ſich auf das Exempel zwoer Jdeen, wel-
che wir vergleichen. Es hat auch zwiſchen dem Beruͤh-
ren und Empfinden: zwiſchen dem Willen und der im
Koͤrper dadurch entſtandenen Bewegung, der beruͤhmte
Eberhard eine kleine Zeitfolge erfunden (s). Noch un-
terdruͤkkt eine groͤſſere Empfindung die kleinere (t); und
ſie wuͤrde ſolches nicht thun, wenn beide Plazz haͤtten.
Welche der Seele viel zuſchreiben, uͤberſteigen doch
nicht (u) die Zahl der fuͤnf oder ſechs Jdeen, welche ſich
die Seele zu gleicher Zeit vorſtellt. Wollten ſie aber die
Probe mit ſich ſelbſt machen, ſo wuͤrden ſie, wie ich da-
vor halte, finden, daß eine darunter die herrſchende un-
ter den uͤbrigen ſei, und die andren an Lebhaftigkeit uͤber-
treffe.
Wenn
(p)
L. XVI. p. 280 281.
(q) BONNET p. 147. 170.
(r) Hiſtoire de l’ame p. 117.
(s)
Phyſiolog p. 269.
(t) WOLF l. c. p. 47.
(u) BONNET p. 333.
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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1081. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1099>, abgerufen am 23.11.2024.
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