Aufmerksamkeit verlangen. Die zurükk gebliebene Jdee von einer geliebten Gemahlin (a), herrschet in einem Ehemanne von guten Eigenschaften lange Zeit, und sie schwebet dem- selben täglich vor Augen. So wird ein jeder erlittner Verlust, als das Andenken einer Feuersbrunst, und der Unwille wegen einer abschlägigen Antwort, gleichsam mit der Seele zugleich alt. Doch es müssen solche Jdeen, welche wider unsern Willen uns vor Augen schweben, von den stärksten welche sein.
Diese Spuren mögen nun von sich selbst, oder auf Ver- langen der Seele in unsrem Gedächtnisse wieder erwachen, so nennt man es Gedächtnis, wenn man sich auf diese Zeichen wieder besinnet, und Einbildung, wenn die Empfindungen selbst wieder rege werden. Es sind dieses abgesonderte Fähigkeiten: denn manche Menschen besizzen eine Stärke in der Wiedererinnerung der Zeichen, und sie können sich bis zum Bewundern auf Namen besinnen: bei andern ist dagegen die Einbildungskraft sehr lebhaft, und sie können sich alte Empfindungen fast eben so sinnlich vorstellen, als sie waren, da sie sich zum erstenmale in dem Organo der Sinnlichkeit abbildeten. Jene Kraft macht Gelehrte, diese Poeten (b). Es ist aber die Vor- stellung der Zeichen schwächer und weniger wirksam, als die Vorstellung der Bilder (c). So ist auch die Vor- stellung, die vom Gedächtnisse hervorgebracht wird, in gesunden Menschen schwächer, als die Empfindung, wel- che jezzo von einem Körper in unsren Sinnen entsteht (d).
Es kann sich aber die Einbildungskraft, Empfindun- gen so lebhaft vormahlen, daß man sie von dem gegen- wärtigen Eindrukke eines Körpers nicht unterscheiden kann. Man hat an den Tönen ein Exempel, da man den lange Zeit gehörten Klang einer Glokke, schwerlich aus den
Ohren
(a)[Spaltenumbruch]
Drei Tage wider Willen beim G. v. SWIETEN T. II. p. 224.
(b) Ein Bauer war beides Gent- lem. Magaz. 1751 m. Febr.
(c)[Spaltenumbruch]CONDILLAC. des senat. I. pag. 55.
(d)BONNET p. 57 504.
X x x 4
I. Abſchnitt. Der Verſtand.
Aufmerkſamkeit verlangen. Die zuruͤkk gebliebene Jdee von einer geliebten Gemahlin (a), herrſchet in einem Ehemanne von guten Eigenſchaften lange Zeit, und ſie ſchwebet dem- ſelben taͤglich vor Augen. So wird ein jeder erlittner Verluſt, als das Andenken einer Feuersbrunſt, und der Unwille wegen einer abſchlaͤgigen Antwort, gleichſam mit der Seele zugleich alt. Doch es muͤſſen ſolche Jdeen, welche wider unſern Willen uns vor Augen ſchweben, von den ſtaͤrkſten welche ſein.
Dieſe Spuren moͤgen nun von ſich ſelbſt, oder auf Ver- langen der Seele in unſrem Gedaͤchtniſſe wieder erwachen, ſo nennt man es Gedaͤchtnis, wenn man ſich auf dieſe Zeichen wieder beſinnet, und Einbildung, wenn die Empfindungen ſelbſt wieder rege werden. Es ſind dieſes abgeſonderte Faͤhigkeiten: denn manche Menſchen beſizzen eine Staͤrke in der Wiedererinnerung der Zeichen, und ſie koͤnnen ſich bis zum Bewundern auf Namen beſinnen: bei andern iſt dagegen die Einbildungskraft ſehr lebhaft, und ſie koͤnnen ſich alte Empfindungen faſt eben ſo ſinnlich vorſtellen, als ſie waren, da ſie ſich zum erſtenmale in dem Organo der Sinnlichkeit abbildeten. Jene Kraft macht Gelehrte, dieſe Poeten (b). Es iſt aber die Vor- ſtellung der Zeichen ſchwaͤcher und weniger wirkſam, als die Vorſtellung der Bilder (c). So iſt auch die Vor- ſtellung, die vom Gedaͤchtniſſe hervorgebracht wird, in geſunden Menſchen ſchwaͤcher, als die Empfindung, wel- che jezzo von einem Koͤrper in unſren Sinnen entſteht (d).
Es kann ſich aber die Einbildungskraft, Empfindun- gen ſo lebhaft vormahlen, daß man ſie von dem gegen- waͤrtigen Eindrukke eines Koͤrpers nicht unterſcheiden kann. Man hat an den Toͤnen ein Exempel, da man den lange Zeit gehoͤrten Klang einer Glokke, ſchwerlich aus den
Ohren
(a)[Spaltenumbruch]
Drei Tage wider Willen beim G. v. SWIETEN T. II. p. 224.
(b) Ein Bauer war beides Gent- lem. Magaz. 1751 m. Febr.
(c)[Spaltenumbruch]CONDILLAC. des ſenat. I. pag. 55.
(d)BONNET p. 57 504.
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I. Abſchnitt. Der Verſtand.
Aufmerkſamkeit verlangen. Die zuruͤkk gebliebene Jdee von
einer geliebten Gemahlin (a), herrſchet in einem Ehemanne
von guten Eigenſchaften lange Zeit, und ſie ſchwebet dem-
ſelben taͤglich vor Augen. So wird ein jeder erlittner
Verluſt, als das Andenken einer Feuersbrunſt, und der
Unwille wegen einer abſchlaͤgigen Antwort, gleichſam mit
der Seele zugleich alt. Doch es muͤſſen ſolche Jdeen,
welche wider unſern Willen uns vor Augen ſchweben,
von den ſtaͤrkſten welche ſein.
Dieſe Spuren moͤgen nun von ſich ſelbſt, oder auf Ver-
langen der Seele in unſrem Gedaͤchtniſſe wieder erwachen,
ſo nennt man es Gedaͤchtnis, wenn man ſich auf dieſe
Zeichen wieder beſinnet, und Einbildung, wenn die
Empfindungen ſelbſt wieder rege werden. Es ſind dieſes
abgeſonderte Faͤhigkeiten: denn manche Menſchen beſizzen
eine Staͤrke in der Wiedererinnerung der Zeichen, und ſie
koͤnnen ſich bis zum Bewundern auf Namen beſinnen:
bei andern iſt dagegen die Einbildungskraft ſehr lebhaft,
und ſie koͤnnen ſich alte Empfindungen faſt eben ſo ſinnlich
vorſtellen, als ſie waren, da ſie ſich zum erſtenmale in
dem Organo der Sinnlichkeit abbildeten. Jene Kraft
macht Gelehrte, dieſe Poeten (b). Es iſt aber die Vor-
ſtellung der Zeichen ſchwaͤcher und weniger wirkſam, als
die Vorſtellung der Bilder (c). So iſt auch die Vor-
ſtellung, die vom Gedaͤchtniſſe hervorgebracht wird, in
geſunden Menſchen ſchwaͤcher, als die Empfindung, wel-
che jezzo von einem Koͤrper in unſren Sinnen entſteht (d).
Es kann ſich aber die Einbildungskraft, Empfindun-
gen ſo lebhaft vormahlen, daß man ſie von dem gegen-
waͤrtigen Eindrukke eines Koͤrpers nicht unterſcheiden kann.
Man hat an den Toͤnen ein Exempel, da man den lange
Zeit gehoͤrten Klang einer Glokke, ſchwerlich aus den
Ohren
(a)
Drei Tage wider Willen
beim G. v. SWIETEN T. II. p. 224.
(b) Ein Bauer war beides Gent-
lem. Magaz. 1751 m. Febr.
(c)
CONDILLAC. des ſenat. I.
pag. 55.
(d) BONNET p. 57 504.
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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1063. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1081>, abgerufen am 23.11.2024.
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