Mit den Jahren wird eben dieses Gehirn immer fester, und einigermassen hart. Und alsdann ist die Wirkung der Empfindungen weniger schnell, und weniger stark, es bleiben im Gegentheil die Spuren der Dinge zurükke, und es ist nun diejenige Fähigkeit der Seele, welche man Gedächtnis nennt, gemeiniglich seit dem achten Jahre, und bisweilen noch früher, im vollkommnen Stande da.
Endlich wird das Gehirn gegen das funfzigste Jahr immer härter und härter, so daß man diese Festigkeit bis- weilen mit den Fingern, angehängten Gewichtern, und dem Messer beweisen kann (x). Alsdann lassen sich die Spu- ren der neuen Empfindungen, wie in eine harte Materie mühsamer eindrükken (y); und sie bleiben darinnen we- nig hängen. Dahingegen bleibt das Andenken von alten Dingen, als ob es zugleich mit dem Gehirne verhärtet worden, viel dauerhafter noch übrig. Wenn daher das Gedächtnis, von einem Stosse an den Hinterkopfe ver- schwunden, so kömmt dasselbe, mit der wieder erlangten Gesundheit, von neuem wieder, und man erinnert sich der längst vergangenen Dinge, nicht aber derjenigen wieder, welche zu nächst vor denselben vorgefallen sind.
Endlich wenn das Gehirn abnimmt, und wie der ganze Körper nach meiner Vermuthung, wegen der schar- fen Säfte, und trägen Auswürfe, zu einer Fäulnis sich neiget (z), so stellt sich dasjenige Alter ein, darinnen we- der neue Empfindungen, noch alte mit einiger Dauer der Seele vorgestellt werden, sondern der Greis, wird wie ein Kind, bei den kleinsten Dingen gerührt, wenn man ihm nicht Recht giebt, weinet er, und vergißt gleich darauf die Ursache des Weinens (a) wieder. Wir lesen von einem
Greise,
(x)[Spaltenumbruch]
Jn einem kindisch geword- nen Menschen, war das Gehirn trokken, gelb, zerreiblich, und die ersten Anfänge der Nerven trokken, und dünner, H. de HEERS obs. p. 45.
(y)TULP. L. IV. c. 15.
(z)[Spaltenumbruch]
Es verzehrt und mindert sich. HARTLEY p. 392.
(a) Vom MARLBOROUGHIO ROBINSON spleen. p. 83. Unter den Bewohnern der Mark, BEC- MANNUS häufig.
H. Phisiol. 5. B. X x x
I. Abſchnitt. Der Verſtand.
Mit den Jahren wird eben dieſes Gehirn immer feſter, und einigermaſſen hart. Und alsdann iſt die Wirkung der Empfindungen weniger ſchnell, und weniger ſtark, es bleiben im Gegentheil die Spuren der Dinge zuruͤkke, und es iſt nun diejenige Faͤhigkeit der Seele, welche man Gedaͤchtnis nennt, gemeiniglich ſeit dem achten Jahre, und bisweilen noch fruͤher, im vollkommnen Stande da.
Endlich wird das Gehirn gegen das funfzigſte Jahr immer haͤrter und haͤrter, ſo daß man dieſe Feſtigkeit bis- weilen mit den Fingern, angehaͤngten Gewichtern, und dem Meſſer beweiſen kann (x). Alsdann laſſen ſich die Spu- ren der neuen Empfindungen, wie in eine harte Materie muͤhſamer eindruͤkken (y); und ſie bleiben darinnen we- nig haͤngen. Dahingegen bleibt das Andenken von alten Dingen, als ob es zugleich mit dem Gehirne verhaͤrtet worden, viel dauerhafter noch uͤbrig. Wenn daher das Gedaͤchtnis, von einem Stoſſe an den Hinterkopfe ver- ſchwunden, ſo koͤmmt daſſelbe, mit der wieder erlangten Geſundheit, von neuem wieder, und man erinnert ſich der laͤngſt vergangenen Dinge, nicht aber derjenigen wieder, welche zu naͤchſt vor denſelben vorgefallen ſind.
Endlich wenn das Gehirn abnimmt, und wie der ganze Koͤrper nach meiner Vermuthung, wegen der ſchar- fen Saͤfte, und traͤgen Auswuͤrfe, zu einer Faͤulnis ſich neiget (z), ſo ſtellt ſich dasjenige Alter ein, darinnen we- der neue Empfindungen, noch alte mit einiger Dauer der Seele vorgeſtellt werden, ſondern der Greis, wird wie ein Kind, bei den kleinſten Dingen geruͤhrt, wenn man ihm nicht Recht giebt, weinet er, und vergißt gleich darauf die Urſache des Weinens (a) wieder. Wir leſen von einem
Greiſe,
(x)[Spaltenumbruch]
Jn einem kindiſch geword- nen Menſchen, war das Gehirn trokken, gelb, zerreiblich, und die erſten Anfaͤnge der Nerven trokken, und duͤnner, H. de HEERS obſ. p. 45.
(y)TULP. L. IV. c. 15.
(z)[Spaltenumbruch]
Es verzehrt und mindert ſich. HARTLEY p. 392.
(a) Vom MARLBOROUGHIO ROBINSON ſpleen. p. 83. Unter den Bewohnern der Mark, BEC- MANNUS haͤufig.
H. Phiſiol. 5. B. X x x
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f1075"n="1057"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">I.</hi> Abſchnitt. Der Verſtand.</hi></fw><lb/><p>Mit den Jahren wird eben dieſes Gehirn immer feſter,<lb/>
und einigermaſſen hart. Und alsdann iſt die Wirkung<lb/>
der Empfindungen weniger ſchnell, und weniger ſtark,<lb/>
es bleiben im Gegentheil die Spuren der Dinge zuruͤkke,<lb/>
und es iſt nun diejenige Faͤhigkeit der Seele, welche man<lb/><hirendition="#fr">Gedaͤchtnis</hi> nennt, gemeiniglich ſeit dem achten Jahre,<lb/>
und bisweilen noch fruͤher, im vollkommnen Stande da.</p><lb/><p>Endlich wird das Gehirn gegen das funfzigſte Jahr<lb/>
immer haͤrter und haͤrter, ſo daß man dieſe Feſtigkeit bis-<lb/>
weilen mit den Fingern, angehaͤngten Gewichtern, und<lb/>
dem Meſſer beweiſen kann <noteplace="foot"n="(x)"><cb/>
Jn einem kindiſch geword-<lb/>
nen Menſchen, war das Gehirn<lb/>
trokken, gelb, zerreiblich, und die<lb/>
erſten Anfaͤnge der Nerven trokken,<lb/>
und duͤnner, <hirendition="#aq">H. de HEERS obſ. p.</hi> 45.</note>. Alsdann laſſen ſich die Spu-<lb/>
ren der neuen Empfindungen, wie in eine harte Materie<lb/>
muͤhſamer eindruͤkken <noteplace="foot"n="(y)"><hirendition="#aq">TULP. L. IV. c.</hi> 15.</note>; und ſie bleiben darinnen we-<lb/>
nig haͤngen. Dahingegen bleibt das Andenken von alten<lb/>
Dingen, als ob es zugleich mit dem Gehirne verhaͤrtet<lb/>
worden, viel dauerhafter noch uͤbrig. Wenn daher das<lb/>
Gedaͤchtnis, von einem Stoſſe an den Hinterkopfe ver-<lb/>ſchwunden, ſo koͤmmt daſſelbe, mit der wieder erlangten<lb/>
Geſundheit, von neuem wieder, und man erinnert ſich der<lb/>
laͤngſt vergangenen Dinge, nicht aber derjenigen wieder,<lb/>
welche zu naͤchſt vor denſelben vorgefallen ſind.</p><lb/><p>Endlich wenn das Gehirn abnimmt, und wie der<lb/>
ganze Koͤrper nach meiner Vermuthung, wegen der ſchar-<lb/>
fen Saͤfte, und traͤgen Auswuͤrfe, zu einer Faͤulnis ſich<lb/>
neiget <noteplace="foot"n="(z)"><cb/>
Es verzehrt und mindert ſich.<lb/><hirendition="#aq">HARTLEY p.</hi> 392.</note>, ſo ſtellt ſich dasjenige Alter ein, darinnen we-<lb/>
der neue Empfindungen, noch alte mit einiger Dauer der<lb/>
Seele vorgeſtellt werden, ſondern der Greis, wird wie ein<lb/>
Kind, bei den kleinſten Dingen geruͤhrt, wenn man ihm<lb/>
nicht Recht giebt, weinet er, und vergißt gleich darauf die<lb/>
Urſache des Weinens <noteplace="foot"n="(a)">Vom <hirendition="#aq">MARLBOROUGHIO<lb/>
ROBINSON ſpleen. p.</hi> 83. Unter<lb/>
den Bewohnern der Mark, <hirendition="#aq">BEC-<lb/>
MANNUS</hi> haͤufig.</note> wieder. Wir leſen von einem<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Greiſe,</fw><lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#fr">H. Phiſiol. 5. B.</hi> X x x</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[1057/1075]
I. Abſchnitt. Der Verſtand.
Mit den Jahren wird eben dieſes Gehirn immer feſter,
und einigermaſſen hart. Und alsdann iſt die Wirkung
der Empfindungen weniger ſchnell, und weniger ſtark,
es bleiben im Gegentheil die Spuren der Dinge zuruͤkke,
und es iſt nun diejenige Faͤhigkeit der Seele, welche man
Gedaͤchtnis nennt, gemeiniglich ſeit dem achten Jahre,
und bisweilen noch fruͤher, im vollkommnen Stande da.
Endlich wird das Gehirn gegen das funfzigſte Jahr
immer haͤrter und haͤrter, ſo daß man dieſe Feſtigkeit bis-
weilen mit den Fingern, angehaͤngten Gewichtern, und
dem Meſſer beweiſen kann (x). Alsdann laſſen ſich die Spu-
ren der neuen Empfindungen, wie in eine harte Materie
muͤhſamer eindruͤkken (y); und ſie bleiben darinnen we-
nig haͤngen. Dahingegen bleibt das Andenken von alten
Dingen, als ob es zugleich mit dem Gehirne verhaͤrtet
worden, viel dauerhafter noch uͤbrig. Wenn daher das
Gedaͤchtnis, von einem Stoſſe an den Hinterkopfe ver-
ſchwunden, ſo koͤmmt daſſelbe, mit der wieder erlangten
Geſundheit, von neuem wieder, und man erinnert ſich der
laͤngſt vergangenen Dinge, nicht aber derjenigen wieder,
welche zu naͤchſt vor denſelben vorgefallen ſind.
Endlich wenn das Gehirn abnimmt, und wie der
ganze Koͤrper nach meiner Vermuthung, wegen der ſchar-
fen Saͤfte, und traͤgen Auswuͤrfe, zu einer Faͤulnis ſich
neiget (z), ſo ſtellt ſich dasjenige Alter ein, darinnen we-
der neue Empfindungen, noch alte mit einiger Dauer der
Seele vorgeſtellt werden, ſondern der Greis, wird wie ein
Kind, bei den kleinſten Dingen geruͤhrt, wenn man ihm
nicht Recht giebt, weinet er, und vergißt gleich darauf die
Urſache des Weinens (a) wieder. Wir leſen von einem
Greiſe,
(x)
Jn einem kindiſch geword-
nen Menſchen, war das Gehirn
trokken, gelb, zerreiblich, und die
erſten Anfaͤnge der Nerven trokken,
und duͤnner, H. de HEERS obſ. p. 45.
(y) TULP. L. IV. c. 15.
(z)
Es verzehrt und mindert ſich.
HARTLEY p. 392.
(a) Vom MARLBOROUGHIO
ROBINSON ſpleen. p. 83. Unter
den Bewohnern der Mark, BEC-
MANNUS haͤufig.
H. Phiſiol. 5. B. X x x
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1057. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1075>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.