man mit Fingern misset, sondern nur den auf gewisse Art an ihr vertheilten Schatten (d).
Wenn also unser Ohr Musik höret, so scheinet zwar das Gehirn einige Erschütterungen zu leiden, welche von der elastischen Luft, welche Bebungen macht, demselben beigebracht werden (e): und diese Erschütterungen sind an Geschwindigkeit und an Lebhaftigkeit unterschieden (f). Und doch weis unsere Seele, sonderlich wenn man in der Musik unerfahren ist, nicht, daß es Zitterungen gebe, und sie weis noch viel weniger, daß die Anzahl dieser Zit- terungen den Unterscheid unter den Tönen verursache, sondern sie empfindet blos die angenehm oder unange- nehm aufeinander folgende Reihen der Töne.
Und dieses mag von den secundis qualitatibus, der Körper genug sein, welche wir, wie alle gestehen (g), auf eine sich beziehende Weise empfinden. Sie bemer- ken mit diesem Nahmen die Farben, Töne, den Ge- schmakk, deren Verschiedenheiten von der Figur, dem Ge- webe, und der Bewegung der unmerklich kleinen Theil- chen der Körper vielleicht herrühren können (h).
Doch es empfindet auch unsre Seele die ersten Eigen- schaften eben so wenig, es nennen aber die Metaphisici erste Qualitäten, welche man in empfindbaren Dingen wirklich befindlich zu sein glaubt, als die Grösse, die Här- te und Figur (i). Wir haben gezeiget, wie verschieden die Grösse des Bildes im Gehirn, von der wirklichen Grösse des gesehenen Körpers sei, und so siehet auch, bei diesem Exempel nicht die Grösse des im Auge abgemahl- ten Bildes, sondern etwas viel grösseres, und welches grösser, als das ganze Auge ist. Und so wie auch die Bewegung vom Gehirn auf keine gewisse und feste Art empfunden wird, so wird sie noch viel weniger von der
Seele
(d)[Spaltenumbruch]pag. 296.
(e)L. XV. p. 271. seqq.
(f)pag. 240.
(g)[Spaltenumbruch]CARTESIUS, LOCKE &c.
(h)L. c. n. 10.
(i)LOCKE l. c. n. 9.
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I. Abſchnitt. Der Verſtand.
man mit Fingern miſſet, ſondern nur den auf gewiſſe Art an ihr vertheilten Schatten (d).
Wenn alſo unſer Ohr Muſik hoͤret, ſo ſcheinet zwar das Gehirn einige Erſchuͤtterungen zu leiden, welche von der elaſtiſchen Luft, welche Bebungen macht, demſelben beigebracht werden (e): und dieſe Erſchuͤtterungen ſind an Geſchwindigkeit und an Lebhaftigkeit unterſchieden (f). Und doch weis unſere Seele, ſonderlich wenn man in der Muſik unerfahren iſt, nicht, daß es Zitterungen gebe, und ſie weis noch viel weniger, daß die Anzahl dieſer Zit- terungen den Unterſcheid unter den Toͤnen verurſache, ſondern ſie empfindet blos die angenehm oder unange- nehm aufeinander folgende Reihen der Toͤne.
Und dieſes mag von den ſecundis qualitatibus, der Koͤrper genug ſein, welche wir, wie alle geſtehen (g), auf eine ſich beziehende Weiſe empfinden. Sie bemer- ken mit dieſem Nahmen die Farben, Toͤne, den Ge- ſchmakk, deren Verſchiedenheiten von der Figur, dem Ge- webe, und der Bewegung der unmerklich kleinen Theil- chen der Koͤrper vielleicht herruͤhren koͤnnen (h).
Doch es empfindet auch unſre Seele die erſten Eigen- ſchaften eben ſo wenig, es nennen aber die Metaphiſici erſte Qualitaͤten, welche man in empfindbaren Dingen wirklich befindlich zu ſein glaubt, als die Groͤſſe, die Haͤr- te und Figur (i). Wir haben gezeiget, wie verſchieden die Groͤſſe des Bildes im Gehirn, von der wirklichen Groͤſſe des geſehenen Koͤrpers ſei, und ſo ſiehet auch, bei dieſem Exempel nicht die Groͤſſe des im Auge abgemahl- ten Bildes, ſondern etwas viel groͤſſeres, und welches groͤſſer, als das ganze Auge iſt. Und ſo wie auch die Bewegung vom Gehirn auf keine gewiſſe und feſte Art empfunden wird, ſo wird ſie noch viel weniger von der
Seele
(d)[Spaltenumbruch]pag. 296.
(e)L. XV. p. 271. ſeqq.
(f)pag. 240.
(g)[Spaltenumbruch]CARTESIUS, LOCKE &c.
(h)L. c. n. 10.
(i)LOCKE l. c. n. 9.
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I. Abſchnitt. Der Verſtand.
man mit Fingern miſſet, ſondern nur den auf gewiſſe Art
an ihr vertheilten Schatten (d).
Wenn alſo unſer Ohr Muſik hoͤret, ſo ſcheinet zwar
das Gehirn einige Erſchuͤtterungen zu leiden, welche von
der elaſtiſchen Luft, welche Bebungen macht, demſelben
beigebracht werden (e): und dieſe Erſchuͤtterungen ſind an
Geſchwindigkeit und an Lebhaftigkeit unterſchieden (f).
Und doch weis unſere Seele, ſonderlich wenn man in der
Muſik unerfahren iſt, nicht, daß es Zitterungen gebe,
und ſie weis noch viel weniger, daß die Anzahl dieſer Zit-
terungen den Unterſcheid unter den Toͤnen verurſache,
ſondern ſie empfindet blos die angenehm oder unange-
nehm aufeinander folgende Reihen der Toͤne.
Und dieſes mag von den ſecundis qualitatibus,
der Koͤrper genug ſein, welche wir, wie alle geſtehen (g),
auf eine ſich beziehende Weiſe empfinden. Sie bemer-
ken mit dieſem Nahmen die Farben, Toͤne, den Ge-
ſchmakk, deren Verſchiedenheiten von der Figur, dem Ge-
webe, und der Bewegung der unmerklich kleinen Theil-
chen der Koͤrper vielleicht herruͤhren koͤnnen (h).
Doch es empfindet auch unſre Seele die erſten Eigen-
ſchaften eben ſo wenig, es nennen aber die Metaphiſici
erſte Qualitaͤten, welche man in empfindbaren Dingen
wirklich befindlich zu ſein glaubt, als die Groͤſſe, die Haͤr-
te und Figur (i). Wir haben gezeiget, wie verſchieden
die Groͤſſe des Bildes im Gehirn, von der wirklichen
Groͤſſe des geſehenen Koͤrpers ſei, und ſo ſiehet auch, bei
dieſem Exempel nicht die Groͤſſe des im Auge abgemahl-
ten Bildes, ſondern etwas viel groͤſſeres, und welches
groͤſſer, als das ganze Auge iſt. Und ſo wie auch die
Bewegung vom Gehirn auf keine gewiſſe und feſte Art
empfunden wird, ſo wird ſie noch viel weniger von der
Seele
(d)
pag. 296.
(e) L. XV. p. 271. ſeqq.
(f) pag. 240.
(g)
CARTESIUS, LOCKE &c.
(h) L. c. n. 10.
(i) LOCKE l. c. n. 9.
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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1049. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1067>, abgerufen am 23.11.2024.
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