Kraft zu sehen mittheilte, daß alle Körper auf seinen Au- gen lägen (y), er hatte keinen Begrif von der Distanz, er erkannte keine Körper des Gesichts, deren Figur er sich schon durch das Gefühl bekannt gemacht hatte (z), er vermuthete nicht, daß diese Figuren in den Mahlereien feste Körper vorstellen (a), und er verwunderte sich, wie die Aehnlichkeit eines Menschen vom Mahler auf ein schma- les Tuch gebracht werden könne (b), und er konnte nicht begreifen, daß etwas grösser als diejenige Kammer sein könnte, welche er vor sich sahe (c).
Doch es scheint auch gar nicht zweifelhaft zu sein, daß wenn unsere Augensäfte, die Krümmung der Linse und Hornhaut anders wäre, und die brechende Feuchtigkeiten auf verschiedene Weise brächen, und das Auge andere hole oder prismatische Figuren bekäme, und die brechen- de oder abprallende Kräfte der Strahlen verändert wür- den, und die Zartheit der Nezzhaut anders beschaffen wäre, und was dergleichen mehr ist, so würden auch an- dere Bilder und andere Urtheile der Seele von den äus- serlichen Objecten entstehen, und es würde bei einigen Thieren dasjenige ein grosses Licht sein, was für andere eine dikke Finsterniß bliebe.
Ueberhaupt kann man also den George Berkley die scheinbare Ausschweifung nicht eben für übel halten, wenn er das ganze Geschäfte des Sehens für ein willkührliches Gespräche zwischen Gott und der Creatur hält (d), und die Creatur von den Dingen nichts wahrnehme und em- pfinde, als was Gott will, daß sie wahrnehme und em-
pfinden
(y)[Spaltenumbruch]p. 301. DAVIEL im Briefe an mich. Iourn. de medec. 1762. m. MARS. Er läugnet es von dem bei den REAUMUR sehend ge- machten Blinden LIGNAC lettre d' un Amer. VII. pag. 28. Doch dem DA VIELI, als einem erfahr- nem Manne, der keine Ursache zu lügen hatte, muß man in der That [Spaltenumbruch]
Glauben beimessen. Conf. auch Miscell. Berol. T. VI. p. 68.
(z)Ibid. & in hist. de la Chir. l. c. DAVIEL l. c. ib. Iuin.
(a)pag. 302.
(b)pag. 303.
(c)pag. 303.
(d)pag. 341.
Das Sehen. XVI. Buch.
Kraft zu ſehen mittheilte, daß alle Koͤrper auf ſeinen Au- gen laͤgen (y), er hatte keinen Begrif von der Diſtanz, er erkannte keine Koͤrper des Geſichts, deren Figur er ſich ſchon durch das Gefuͤhl bekannt gemacht hatte (z), er vermuthete nicht, daß dieſe Figuren in den Mahlereien feſte Koͤrper vorſtellen (a), und er verwunderte ſich, wie die Aehnlichkeit eines Menſchen vom Mahler auf ein ſchma- les Tuch gebracht werden koͤnne (b), und er konnte nicht begreifen, daß etwas groͤſſer als diejenige Kammer ſein koͤnnte, welche er vor ſich ſahe (c).
Doch es ſcheint auch gar nicht zweifelhaft zu ſein, daß wenn unſere Augenſaͤfte, die Kruͤmmung der Linſe und Hornhaut anders waͤre, und die brechende Feuchtigkeiten auf verſchiedene Weiſe braͤchen, und das Auge andere hole oder prismatiſche Figuren bekaͤme, und die brechen- de oder abprallende Kraͤfte der Strahlen veraͤndert wuͤr- den, und die Zartheit der Nezzhaut anders beſchaffen waͤre, und was dergleichen mehr iſt, ſo wuͤrden auch an- dere Bilder und andere Urtheile der Seele von den aͤuſ- ſerlichen Objecten entſtehen, und es wuͤrde bei einigen Thieren dasjenige ein groſſes Licht ſein, was fuͤr andere eine dikke Finſterniß bliebe.
Ueberhaupt kann man alſo den George Berkley die ſcheinbare Ausſchweifung nicht eben fuͤr uͤbel halten, wenn er das ganze Geſchaͤfte des Sehens fuͤr ein willkuͤhrliches Geſpraͤche zwiſchen Gott und der Creatur haͤlt (d), und die Creatur von den Dingen nichts wahrnehme und em- pfinde, als was Gott will, daß ſie wahrnehme und em-
pfinden
(y)[Spaltenumbruch]p. 301. DAVIEL im Briefe an mich. Iourn. de medec. 1762. m. MARS. Er laͤugnet es von dem bei den REAUMUR ſehend ge- machten Blinden LIGNAC lettre d’ un Amer. VII. pag. 28. Doch dem DA VIELI, als einem erfahr- nem Manne, der keine Urſache zu luͤgen hatte, muß man in der That [Spaltenumbruch]
Glauben beimeſſen. Conf. auch Miſcell. Berol. T. VI. p. 68.
(z)Ibid. & in hiſt. de la Chir. l. c. DAVIEL l. c. ib. Iuin.
(a)pag. 302.
(b)pag. 303.
(c)pag. 303.
(d)pag. 341.
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Das Sehen. XVI. Buch.
Kraft zu ſehen mittheilte, daß alle Koͤrper auf ſeinen Au-
gen laͤgen (y), er hatte keinen Begrif von der Diſtanz, er
erkannte keine Koͤrper des Geſichts, deren Figur er ſich
ſchon durch das Gefuͤhl bekannt gemacht hatte (z), er
vermuthete nicht, daß dieſe Figuren in den Mahlereien feſte
Koͤrper vorſtellen (a), und er verwunderte ſich, wie die
Aehnlichkeit eines Menſchen vom Mahler auf ein ſchma-
les Tuch gebracht werden koͤnne (b), und er konnte nicht
begreifen, daß etwas groͤſſer als diejenige Kammer ſein
koͤnnte, welche er vor ſich ſahe (c).
Doch es ſcheint auch gar nicht zweifelhaft zu ſein, daß
wenn unſere Augenſaͤfte, die Kruͤmmung der Linſe und
Hornhaut anders waͤre, und die brechende Feuchtigkeiten
auf verſchiedene Weiſe braͤchen, und das Auge andere
hole oder prismatiſche Figuren bekaͤme, und die brechen-
de oder abprallende Kraͤfte der Strahlen veraͤndert wuͤr-
den, und die Zartheit der Nezzhaut anders beſchaffen
waͤre, und was dergleichen mehr iſt, ſo wuͤrden auch an-
dere Bilder und andere Urtheile der Seele von den aͤuſ-
ſerlichen Objecten entſtehen, und es wuͤrde bei einigen
Thieren dasjenige ein groſſes Licht ſein, was fuͤr andere
eine dikke Finſterniß bliebe.
Ueberhaupt kann man alſo den George Berkley die
ſcheinbare Ausſchweifung nicht eben fuͤr uͤbel halten, wenn
er das ganze Geſchaͤfte des Sehens fuͤr ein willkuͤhrliches
Geſpraͤche zwiſchen Gott und der Creatur haͤlt (d), und
die Creatur von den Dingen nichts wahrnehme und em-
pfinde, als was Gott will, daß ſie wahrnehme und em-
pfinden
(y)
p. 301. DAVIEL im Briefe
an mich. Iourn. de medec. 1762.
m. MARS. Er laͤugnet es von dem
bei den REAUMUR ſehend ge-
machten Blinden LIGNAC lettre
d’ un Amer. VII. pag. 28. Doch
dem DA VIELI, als einem erfahr-
nem Manne, der keine Urſache zu
luͤgen hatte, muß man in der That
Glauben beimeſſen. Conf. auch
Miſcell. Berol. T. VI. p. 68.
(z) Ibid. & in hiſt. de la Chir.
l. c. DAVIEL l. c. ib. Iuin.
(a) pag. 302.
(b) pag. 303.
(c) pag. 303.
(d) pag. 341.
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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1028. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1046>, abgerufen am 23.11.2024.
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