Fünftens muß man mit dieser Zartheit auch noch eine gewisse Eigenschaft verbinden, welche sich mit ihr schlecht zu reimen scheint. Es muß nämlich demohnge- achtet doch dieses flüßige in den Nerven zu dem Nerven eine solche Anzüglichkeit haben [Spaltenumbruch]e, daß es denselben be- wohne und denselben nicht, vor dem verrichteten Ge- schäfte verlasse, denn wenn es ihn verliesse und sich in das benachbarte Zellwebe, oder in die Muskeln ergösse, so könnte es nimmer mehr eine Bewegung vom Gehirne bis zum Fusse, oder das Gefühl vom Fusse ins Gehirn bringen. Wir haben bereits gezeigt, daß man in kei- nen Theilen, ausser in den Nerven, eine Spur von einer empfindenden Natur entdecken könne f, und daß es also nicht scheine, daß sich das Element, welches der Empfindung aufzuwarten bestimmt ist, in die andern Theile zerstreuen, und sich von dem Nervenröhrchen ver- irren sollte.
Sechstens muß sie ein solches flüßiges Wesen sein, daran kein erweckter oder lebhafter Geschmack [Spaltenumbruch]g, Ge- ruch, Farbe oder Wärme, oder irgend eine andre Ei- genschaft, anzutreffen sei, welche unsre Sinnen sehr in Bewegung setzt, denn wenn dergleichen Kraft in dem Nervensafte anzutreffen wäre, so würde sich dieses flüs- sige, entweder der Seele beständig vorstellen, oder doch wenigstens machen, daß die Seele nicht bei einer stärkern Empfindung taub werde. Ein Beispiel davon. Es macht der Speichel, daß uns nicht schmackhaft zu sein scheint, welches nicht salziger ist, als der Speichel. Wä- re aber der Speichel übermäßig gesalzen, oder süß, oder bitter, so würde dieser Geschmack der Seele beständig vor Augen schweben.
§. 12.
eMagnetismus nennt es Lieu- taud physiolog. p. 256.
fp. 271.
g Die Geister sind ohne Ge- schmack, Borrich de somno et som- nif. n. 7. p. 8. Das Gehirn hat keinen Geschmack, p. 19. 20. Hartley.
VIII. Abſchnitt. Die Muthmaſſungen.
Fuͤnftens muß man mit dieſer Zartheit auch noch eine gewiſſe Eigenſchaft verbinden, welche ſich mit ihr ſchlecht zu reimen ſcheint. Es muß naͤmlich demohnge- achtet doch dieſes fluͤßige in den Nerven zu dem Nerven eine ſolche Anzuͤglichkeit haben [Spaltenumbruch]e, daß es denſelben be- wohne und denſelben nicht, vor dem verrichteten Ge- ſchaͤfte verlaſſe, denn wenn es ihn verlieſſe und ſich in das benachbarte Zellwebe, oder in die Muskeln ergoͤſſe, ſo koͤnnte es nimmer mehr eine Bewegung vom Gehirne bis zum Fuſſe, oder das Gefuͤhl vom Fuſſe ins Gehirn bringen. Wir haben bereits gezeigt, daß man in kei- nen Theilen, auſſer in den Nerven, eine Spur von einer empfindenden Natur entdecken koͤnne f, und daß es alſo nicht ſcheine, daß ſich das Element, welches der Empfindung aufzuwarten beſtimmt iſt, in die andern Theile zerſtreuen, und ſich von dem Nervenroͤhrchen ver- irren ſollte.
Sechſtens muß ſie ein ſolches fluͤßiges Weſen ſein, daran kein erweckter oder lebhafter Geſchmack [Spaltenumbruch]g, Ge- ruch, Farbe oder Waͤrme, oder irgend eine andre Ei- genſchaft, anzutreffen ſei, welche unſre Sinnen ſehr in Bewegung ſetzt, denn wenn dergleichen Kraft in dem Nervenſafte anzutreffen waͤre, ſo wuͤrde ſich dieſes fluͤſ- ſige, entweder der Seele beſtaͤndig vorſtellen, oder doch wenigſtens machen, daß die Seele nicht bei einer ſtaͤrkern Empfindung taub werde. Ein Beiſpiel davon. Es macht der Speichel, daß uns nicht ſchmackhaft zu ſein ſcheint, welches nicht ſalziger iſt, als der Speichel. Waͤ- re aber der Speichel uͤbermaͤßig geſalzen, oder ſuͤß, oder bitter, ſo wuͤrde dieſer Geſchmack der Seele beſtaͤndig vor Augen ſchweben.
§. 12.
eMagnetismus nennt es Lieu- taud phyſiolog. p. 256.
fp. 271.
g Die Geiſter ſind ohne Ge- ſchmack, Borrich de ſomno et ſom- nif. n. 7. p. 8. Das Gehirn hat keinen Geſchmack, p. 19. 20. Hartley.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0623"n="587"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">VIII.</hi> Abſchnitt. Die Muthmaſſungen.</hi></fw><lb/><p><hirendition="#fr">Fuͤnftens</hi> muß man mit dieſer Zartheit auch noch<lb/>
eine gewiſſe Eigenſchaft verbinden, welche ſich mit ihr<lb/>ſchlecht zu reimen ſcheint. Es muß naͤmlich demohnge-<lb/>
achtet doch dieſes fluͤßige in den Nerven zu dem Nerven<lb/>
eine ſolche Anzuͤglichkeit haben <cb/><noteplace="foot"n="e"><hirendition="#aq">Magnetismus</hi> nennt es <hirendition="#aq"><hirendition="#i">Lieu-<lb/>
taud</hi> phyſiolog. p.</hi> 256.</note>, daß es denſelben be-<lb/>
wohne und denſelben nicht, vor dem verrichteten Ge-<lb/>ſchaͤfte verlaſſe, denn wenn es ihn verlieſſe und ſich in<lb/>
das benachbarte Zellwebe, oder in die Muskeln ergoͤſſe,<lb/>ſo koͤnnte es nimmer mehr eine Bewegung vom Gehirne<lb/>
bis zum Fuſſe, oder das Gefuͤhl vom Fuſſe ins Gehirn<lb/>
bringen. Wir haben bereits gezeigt, daß man in kei-<lb/>
nen Theilen, auſſer in den Nerven, eine Spur von einer<lb/>
empfindenden Natur entdecken koͤnne <noteplace="foot"n="f"><hirendition="#aq">p.</hi> 271.</note>, und daß es<lb/>
alſo nicht ſcheine, daß ſich das Element, welches der<lb/>
Empfindung aufzuwarten beſtimmt iſt, in die andern<lb/>
Theile zerſtreuen, und ſich von dem Nervenroͤhrchen ver-<lb/>
irren ſollte.</p><lb/><p><hirendition="#fr">Sechſtens</hi> muß ſie ein ſolches fluͤßiges Weſen ſein,<lb/>
daran kein erweckter oder lebhafter Geſchmack <cb/><noteplace="foot"n="g">Die Geiſter ſind ohne Ge-<lb/>ſchmack, <hirendition="#aq">B<hirendition="#i">orrich</hi> de ſomno et ſom-<lb/>
nif. n. 7. p.</hi> 8. Das Gehirn hat<lb/>
keinen Geſchmack, <hirendition="#aq">p. 19. 20. <hirendition="#i">Hartley.</hi></hi></note>, Ge-<lb/>
ruch, Farbe oder Waͤrme, oder irgend eine andre Ei-<lb/>
genſchaft, anzutreffen ſei, welche unſre Sinnen ſehr in<lb/>
Bewegung ſetzt, denn wenn dergleichen Kraft in dem<lb/>
Nervenſafte anzutreffen waͤre, ſo wuͤrde ſich dieſes fluͤſ-<lb/>ſige, entweder der Seele beſtaͤndig vorſtellen, oder doch<lb/>
wenigſtens machen, daß die Seele nicht bei einer ſtaͤrkern<lb/>
Empfindung taub werde. Ein Beiſpiel davon. Es<lb/>
macht der Speichel, daß uns nicht ſchmackhaft zu ſein<lb/>ſcheint, welches nicht ſalziger iſt, als der Speichel. Waͤ-<lb/>
re aber der Speichel uͤbermaͤßig geſalzen, oder ſuͤß, oder<lb/>
bitter, ſo wuͤrde dieſer Geſchmack der Seele beſtaͤndig<lb/>
vor Augen ſchweben.</p></div><lb/><fwplace="bottom"type="catch">§. 12.</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[587/0623]
VIII. Abſchnitt. Die Muthmaſſungen.
Fuͤnftens muß man mit dieſer Zartheit auch noch
eine gewiſſe Eigenſchaft verbinden, welche ſich mit ihr
ſchlecht zu reimen ſcheint. Es muß naͤmlich demohnge-
achtet doch dieſes fluͤßige in den Nerven zu dem Nerven
eine ſolche Anzuͤglichkeit haben
e, daß es denſelben be-
wohne und denſelben nicht, vor dem verrichteten Ge-
ſchaͤfte verlaſſe, denn wenn es ihn verlieſſe und ſich in
das benachbarte Zellwebe, oder in die Muskeln ergoͤſſe,
ſo koͤnnte es nimmer mehr eine Bewegung vom Gehirne
bis zum Fuſſe, oder das Gefuͤhl vom Fuſſe ins Gehirn
bringen. Wir haben bereits gezeigt, daß man in kei-
nen Theilen, auſſer in den Nerven, eine Spur von einer
empfindenden Natur entdecken koͤnne f, und daß es
alſo nicht ſcheine, daß ſich das Element, welches der
Empfindung aufzuwarten beſtimmt iſt, in die andern
Theile zerſtreuen, und ſich von dem Nervenroͤhrchen ver-
irren ſollte.
Sechſtens muß ſie ein ſolches fluͤßiges Weſen ſein,
daran kein erweckter oder lebhafter Geſchmack
g, Ge-
ruch, Farbe oder Waͤrme, oder irgend eine andre Ei-
genſchaft, anzutreffen ſei, welche unſre Sinnen ſehr in
Bewegung ſetzt, denn wenn dergleichen Kraft in dem
Nervenſafte anzutreffen waͤre, ſo wuͤrde ſich dieſes fluͤſ-
ſige, entweder der Seele beſtaͤndig vorſtellen, oder doch
wenigſtens machen, daß die Seele nicht bei einer ſtaͤrkern
Empfindung taub werde. Ein Beiſpiel davon. Es
macht der Speichel, daß uns nicht ſchmackhaft zu ſein
ſcheint, welches nicht ſalziger iſt, als der Speichel. Waͤ-
re aber der Speichel uͤbermaͤßig geſalzen, oder ſuͤß, oder
bitter, ſo wuͤrde dieſer Geſchmack der Seele beſtaͤndig
vor Augen ſchweben.
§. 12.
e Magnetismus nennt es Lieu-
taud phyſiolog. p. 256.
f p. 271.
g Die Geiſter ſind ohne Ge-
ſchmack, Borrich de ſomno et ſom-
nif. n. 7. p. 8. Das Gehirn hat
keinen Geſchmack, p. 19. 20. Hartley.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 4. Berlin, 1768, S. 587. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende04_1768/623>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.