schaft verfertigen wollte. Das Leben der Menschen ist an sich kurz, und das Leben ei- nes Zergliederers ist noch kürzer, indem dasselbe gemeiniglich durch einen frühzeitigen Tod abgekürzet, oder durch eine andre Le- bensart, oder wenigstens durch andere bür- gerliche Bedienungen, gestöhret und unruhig gemacht wird. Man könnte auch wohl, so gar durch Berechnungen, deutlich zeigen, daß es nicht möglich sey, innerhalb zwanzig Jah- ren alle Theile des thierischen Körpers vollstän- dig abzuhandeln; wenn man ausserdem noch die Mannigfaltigkeit mit auf die Rechnung sezzte, welche in Ansehung der Bildung derer Theile vorkommt, und die man erst nach wie- derholten Erfahrungen recht genau muß er- kennen lernen, wofern man nicht blos mit ei- nem Theile des Wahren zufrieden seyn, und in beständiger Furcht vor diesem so gemeinen Fehler beharren will, in den uns die blosse Beobachtung eines einzigen Beispiels zu stür- zen pflegt. Vermöge dieses Fehlers pflegen wir oftermals das vor wahr zu halten, was nur höchst selten wahr ist, und davon ein ge- genseitiger Bau öfterer vorkommen, und also, wegen der Menge derer Abänderungen, für eine wirkliche Absicht der Natur angesehen werden kann. Wollte uns jemand, da wir diese Schwierigkeiten eingestehen, widerspre- chen, so kann er nur den Versuch machen, ei- ne Geschichte der Nerven zu schreiben, und denn mag er nach zehn Jahren noch fortfah-
ren,
Vorrede des Verfaſſers.
ſchaft verfertigen wollte. Das Leben der Menſchen iſt an ſich kurz, und das Leben ei- nes Zergliederers iſt noch kuͤrzer, indem daſſelbe gemeiniglich durch einen fruͤhzeitigen Tod abgekuͤrzet, oder durch eine andre Le- bensart, oder wenigſtens durch andere buͤr- gerliche Bedienungen, geſtoͤhret und unruhig gemacht wird. Man koͤnnte auch wohl, ſo gar durch Berechnungen, deutlich zeigen, daß es nicht moͤglich ſey, innerhalb zwanzig Jah- ren alle Theile des thieriſchen Koͤrpers vollſtaͤn- dig abzuhandeln; wenn man auſſerdem noch die Mannigfaltigkeit mit auf die Rechnung ſezzte, welche in Anſehung der Bildung derer Theile vorkommt, und die man erſt nach wie- derholten Erfahrungen recht genau muß er- kennen lernen, wofern man nicht blos mit ei- nem Theile des Wahren zufrieden ſeyn, und in beſtaͤndiger Furcht vor dieſem ſo gemeinen Fehler beharren will, in den uns die bloſſe Beobachtung eines einzigen Beiſpiels zu ſtuͤr- zen pflegt. Vermoͤge dieſes Fehlers pflegen wir oftermals das vor wahr zu halten, was nur hoͤchſt ſelten wahr iſt, und davon ein ge- genſeitiger Bau oͤfterer vorkommen, und alſo, wegen der Menge derer Abaͤnderungen, fuͤr eine wirkliche Abſicht der Natur angeſehen werden kann. Wollte uns jemand, da wir dieſe Schwierigkeiten eingeſtehen, widerſpre- chen, ſo kann er nur den Verſuch machen, ei- ne Geſchichte der Nerven zu ſchreiben, und denn mag er nach zehn Jahren noch fortfah-
ren,
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[0018]
Vorrede des Verfaſſers.
ſchaft verfertigen wollte. Das Leben der
Menſchen iſt an ſich kurz, und das Leben ei-
nes Zergliederers iſt noch kuͤrzer, indem
daſſelbe gemeiniglich durch einen fruͤhzeitigen
Tod abgekuͤrzet, oder durch eine andre Le-
bensart, oder wenigſtens durch andere buͤr-
gerliche Bedienungen, geſtoͤhret und unruhig
gemacht wird. Man koͤnnte auch wohl, ſo
gar durch Berechnungen, deutlich zeigen, daß
es nicht moͤglich ſey, innerhalb zwanzig Jah-
ren alle Theile des thieriſchen Koͤrpers vollſtaͤn-
dig abzuhandeln; wenn man auſſerdem noch
die Mannigfaltigkeit mit auf die Rechnung
ſezzte, welche in Anſehung der Bildung derer
Theile vorkommt, und die man erſt nach wie-
derholten Erfahrungen recht genau muß er-
kennen lernen, wofern man nicht blos mit ei-
nem Theile des Wahren zufrieden ſeyn, und
in beſtaͤndiger Furcht vor dieſem ſo gemeinen
Fehler beharren will, in den uns die bloſſe
Beobachtung eines einzigen Beiſpiels zu ſtuͤr-
zen pflegt. Vermoͤge dieſes Fehlers pflegen
wir oftermals das vor wahr zu halten, was
nur hoͤchſt ſelten wahr iſt, und davon ein ge-
genſeitiger Bau oͤfterer vorkommen, und alſo,
wegen der Menge derer Abaͤnderungen, fuͤr
eine wirkliche Abſicht der Natur angeſehen
werden kann. Wollte uns jemand, da wir
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ne Geſchichte der Nerven zu ſchreiben, und
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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 1. Berlin, 1759, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende01_1759/18>, abgerufen am 21.11.2024.
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