Unsere Kenntniß vom menschlichen Leben hat sich erst innerhalb des 19. Jahrhunderts zum Range einer selbständigen, wirklichen Wissenschaft erhoben; sie hat sich erst innerhalb desselben zu einem der vornehmsten, interessantesten und wichtig- sten Wissenszweige entwickelt. Diese "Lehre von den Lebens- thätigkeiten", die Physiologie, hat sich zwar frühzeitig der Heilkunde als eine wünschenswerthe, ja nothwendige Vorbedingung für erfolgreiche ärztliche Thätigkeit fühlbar gemacht, in engem Zusammenhang mit der Anatomie, der Lehre vom Körperbau. Aber sie konnte erst viel später und langsamer als diese letztere gründlich erforscht werden, da sie auf viel größere Schwierig- keiten stieß.
Der Begriff des Lebens, als Gegensatz zum Tode, ist natürlich schon sehr frühzeitig Gegenstand des Nachdenkens ge- wesen. Man beobachtete am lebenden Menschen wie an den lebendigen Thieren eine Anzahl von eigenthümlichen Verände- rungen, vorzugsweise Bewegungen, welche den "todten" Naturkörpern fehlten: selbständige Ortsbewegung, Herzklopfen, Athemzüge, Sprache u. s. w. Allein die Unterscheidung solcher "organischer Bewegungen" von ähnlichen Erscheinungen bei an- organischen Naturkörpern war nicht leicht und oft verfehlt; das fließende Wasser, die flackernde Flamme, der wehende Wind, der stürzende Fels zeigten dem Menschen ganz ähnliche Verände-
Unſere Kenntniß vom menſchlichen Leben hat ſich erſt innerhalb des 19. Jahrhunderts zum Range einer ſelbſtändigen, wirklichen Wiſſenſchaft erhoben; ſie hat ſich erſt innerhalb desſelben zu einem der vornehmſten, intereſſanteſten und wichtig- ſten Wiſſenszweige entwickelt. Dieſe „Lehre von den Lebens- thätigkeiten“, die Phyſiologie, hat ſich zwar frühzeitig der Heilkunde als eine wünſchenswerthe, ja nothwendige Vorbedingung für erfolgreiche ärztliche Thätigkeit fühlbar gemacht, in engem Zuſammenhang mit der Anatomie, der Lehre vom Körperbau. Aber ſie konnte erſt viel ſpäter und langſamer als dieſe letztere gründlich erforſcht werden, da ſie auf viel größere Schwierig- keiten ſtieß.
Der Begriff des Lebens, als Gegenſatz zum Tode, iſt natürlich ſchon ſehr frühzeitig Gegenſtand des Nachdenkens ge- weſen. Man beobachtete am lebenden Menſchen wie an den lebendigen Thieren eine Anzahl von eigenthümlichen Verände- rungen, vorzugsweiſe Bewegungen, welche den „todten“ Naturkörpern fehlten: ſelbſtändige Ortsbewegung, Herzklopfen, Athemzüge, Sprache u. ſ. w. Allein die Unterſcheidung ſolcher „organiſcher Bewegungen“ von ähnlichen Erſcheinungen bei an- organiſchen Naturkörpern war nicht leicht und oft verfehlt; das fließende Waſſer, die flackernde Flamme, der wehende Wind, der ſtürzende Fels zeigten dem Menſchen ganz ähnliche Verände-
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Unſere Kenntniß vom menſchlichen Leben hat ſich erſt
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wirklichen Wiſſenſchaft erhoben; ſie hat ſich erſt innerhalb
desſelben zu einem der vornehmſten, intereſſanteſten und wichtig-
ſten Wiſſenszweige entwickelt. Dieſe „Lehre von den Lebens-
thätigkeiten“, die Phyſiologie, hat ſich zwar frühzeitig der
Heilkunde als eine wünſchenswerthe, ja nothwendige Vorbedingung
für erfolgreiche ärztliche Thätigkeit fühlbar gemacht, in engem
Zuſammenhang mit der Anatomie, der Lehre vom Körperbau.
Aber ſie konnte erſt viel ſpäter und langſamer als dieſe letztere
gründlich erforſcht werden, da ſie auf viel größere Schwierig-
keiten ſtieß.
Der Begriff des Lebens, als Gegenſatz zum Tode, iſt
natürlich ſchon ſehr frühzeitig Gegenſtand des Nachdenkens ge-
weſen. Man beobachtete am lebenden Menſchen wie an den
lebendigen Thieren eine Anzahl von eigenthümlichen Verände-
rungen, vorzugsweiſe Bewegungen, welche den „todten“
Naturkörpern fehlten: ſelbſtändige Ortsbewegung, Herzklopfen,
Athemzüge, Sprache u. ſ. w. Allein die Unterſcheidung ſolcher
„organiſcher Bewegungen“ von ähnlichen Erſcheinungen bei an-
organiſchen Naturkörpern war nicht leicht und oft verfehlt; das
fließende Waſſer, die flackernde Flamme, der wehende Wind, der
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. [47]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/63>, abgerufen am 22.12.2024.
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