Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.Anmerkungen und Erläuterungen. Darstellungen aus dem unerschöpflichen Schönheits-Reiche in Natur- undMenschenleben. Zwischen den hohen Säulen der gothischen Dome, welche von Lianen umschlungen sind, werden schlanke Palmen und Baumfarne, zierliche Bananen und Bambusen an die Schöpfungskraft der Tropen erinnern. In großen Aquarien, unterhalb der Kirchenfenster, werden reizende Medusen und Siphonophoren, buntfarbige Korallen und Sternthiere die "Kunst- formen" des Meereslebens erläutern. An die Stelle des Hochaltars wird eine "Urania" treten, welche an den Bewegungen der Weltkörper die Allmacht des Substanz-Gesetzes darlegt. Thatsächlich finden jetzt schon zahlreiche Gebildete ihre wahre Erbauung nicht in dem Anhören phrasen- reicher und gedankenarmer Predigten, sondern in dem Besuche öffentlicher Vorträge über Wissenschaft und Kunst, in dem Genusse der unendlichen Schönheiten, welche aus dem Schooße unserer Mutter Natur in unversieg- lichem Strome fließen. 19) Egoismus und Altruismus (S. 404). Die beiden Grundpfeiler der gesunden Moral und Sociologie bilden Egoismus (Selbstliebe) und Altruismus (Nächstenliebe) im richtigen Gleichgewicht; das gilt für den Menschen ebenso wie für alle anderen socialen Thiere. Ebenso wie einerseits das Gedeihen der Gesellschaft an dasjenige der Personen ge- knüpft ist, die sie zusammensetzen, so ist andererseits die volle Entwickelung des individuellen Menschenwesens nur möglich im Zusammenleben mit Seinesgleichen. Die Christen-Moral predigt die ausschließliche Geltung des Altruismus und will dem Egoismus keinerlei Rechte zugestehen. Ge- rade umgekehrt verfährt die moderne Herren-Moral (von Max Stirner, Friedrich Nietzsche u. A.) Beide Extreme sind gleich falsch und wider- sprechen in gleicher Weise den gesunden Forderungen der socialen Natur. Vergleiche Hermann Türck, Friedrich Nietzsche und seine philosophischen Irrwege (Jena 1891). -- L. Büchner, Die Philosophie des Egoismus. Internationale Literatur-Berichte. IV, 1 (7 Januar 1897). 20) Ausblick auf das zwanzigste Jahrhundert (S. 440). Die feste Ueberzeugung von der Wahrheit der monistischen Philosophie, welche mein Buch über die "Welträthsel" von Anfang bis zu Ende durch- zieht, gründet sich in erster Linie auf die wunderbaren Fortschritte der Natur-Erkenntniß im neunzehnten Jahrhundert. Sie fordert uns aber am Schlusse desselben auf, auch noch einen hoffnungsvollen Ausblick in das anbrechende zwanzigste Jahrhundert zu thun und die Frage aufzuwerfen: "Fühlen wir uns vom Morgenhauch eines neuen Geistes berührt, und tragen wir in uns das sichere Ahnen und Empfinden eines Höheren und Besseren?" Julius Hart, dessen Geschichte der Weltliteratur (2 Bände, Berlin 1894) viele Beiträge zur allseitigen Beleuchtung dieser großen Frage liefert, hat dieselbe vor Kurzem geistreich erörtert in einem neuen Werke: "Zukunftsland. Im Kampf um eine Weltanschauung. I. Band: Der neue Gott. Ein Ausblick auf das kommende Jahr- Anmerkungen und Erläuterungen. Darſtellungen aus dem unerſchöpflichen Schönheits-Reiche in Natur- undMenſchenleben. Zwiſchen den hohen Säulen der gothiſchen Dome, welche von Lianen umſchlungen ſind, werden ſchlanke Palmen und Baumfarne, zierliche Bananen und Bambuſen an die Schöpfungskraft der Tropen erinnern. In großen Aquarien, unterhalb der Kirchenfenſter, werden reizende Meduſen und Siphonophoren, buntfarbige Korallen und Sternthiere die „Kunſt- formen“ des Meereslebens erläutern. An die Stelle des Hochaltars wird eine „Urania“ treten, welche an den Bewegungen der Weltkörper die Allmacht des Subſtanz-Geſetzes darlegt. Thatſächlich finden jetzt ſchon zahlreiche Gebildete ihre wahre Erbauung nicht in dem Anhören phraſen- reicher und gedankenarmer Predigten, ſondern in dem Beſuche öffentlicher Vorträge über Wiſſenſchaft und Kunſt, in dem Genuſſe der unendlichen Schönheiten, welche aus dem Schooße unſerer Mutter Natur in unverſieg- lichem Strome fließen. 19) Egoismus und Altruismus (S. 404). Die beiden Grundpfeiler der geſunden Moral und Sociologie bilden Egoismus (Selbſtliebe) und Altruismus (Nächſtenliebe) im richtigen Gleichgewicht; das gilt für den Menſchen ebenſo wie für alle anderen ſocialen Thiere. Ebenſo wie einerſeits das Gedeihen der Geſellſchaft an dasjenige der Perſonen ge- knüpft iſt, die ſie zuſammenſetzen, ſo iſt andererſeits die volle Entwickelung des individuellen Menſchenweſens nur möglich im Zuſammenleben mit Seinesgleichen. Die Chriſten-Moral predigt die ausſchließliche Geltung des Altruismus und will dem Egoismus keinerlei Rechte zugeſtehen. Ge- rade umgekehrt verfährt die moderne Herren-Moral (von Max Stirner, Friedrich Nietzſche u. A.) Beide Extreme ſind gleich falſch und wider- ſprechen in gleicher Weiſe den geſunden Forderungen der ſocialen Natur. Vergleiche Hermann Türck, Friedrich Nietzſche und ſeine philoſophiſchen Irrwege (Jena 1891). — L. Büchner, Die Philoſophie des Egoismus. Internationale Literatur-Berichte. IV, 1 (7 Januar 1897). 20) Ausblick auf das zwanzigſte Jahrhundert (S. 440). Die feſte Ueberzeugung von der Wahrheit der moniſtiſchen Philoſophie, welche mein Buch über die „Welträthſel“ von Anfang bis zu Ende durch- zieht, gründet ſich in erſter Linie auf die wunderbaren Fortſchritte der Natur-Erkenntniß im neunzehnten Jahrhundert. Sie fordert uns aber am Schluſſe desſelben auf, auch noch einen hoffnungsvollen Ausblick in das anbrechende zwanzigſte Jahrhundert zu thun und die Frage aufzuwerfen: „Fühlen wir uns vom Morgenhauch eines neuen Geiſtes berührt, und tragen wir in uns das ſichere Ahnen und Empfinden eines Höheren und Beſſeren?“ Julius Hart, deſſen Geſchichte der Weltliteratur (2 Bände, Berlin 1894) viele Beiträge zur allſeitigen Beleuchtung dieſer großen Frage liefert, hat dieſelbe vor Kurzem geiſtreich erörtert in einem neuen Werke: „Zukunftsland. Im Kampf um eine Weltanſchauung. I. Band: Der neue Gott. 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Anmerkungen und Erläuterungen.
¹⁸⁾
Darſtellungen aus dem unerſchöpflichen Schönheits-Reiche in Natur- und
Menſchenleben. Zwiſchen den hohen Säulen der gothiſchen Dome, welche
von Lianen umſchlungen ſind, werden ſchlanke Palmen und Baumfarne,
zierliche Bananen und Bambuſen an die Schöpfungskraft der Tropen erinnern.
In großen Aquarien, unterhalb der Kirchenfenſter, werden reizende Meduſen
und Siphonophoren, buntfarbige Korallen und Sternthiere die „Kunſt-
formen“ des Meereslebens erläutern. An die Stelle des Hochaltars wird
eine „Urania“ treten, welche an den Bewegungen der Weltkörper die
Allmacht des Subſtanz-Geſetzes darlegt. Thatſächlich finden jetzt
ſchon zahlreiche Gebildete ihre wahre Erbauung nicht in dem Anhören phraſen-
reicher und gedankenarmer Predigten, ſondern in dem Beſuche öffentlicher
Vorträge über Wiſſenſchaft und Kunſt, in dem Genuſſe der unendlichen
Schönheiten, welche aus dem Schooße unſerer Mutter Natur in unverſieg-
lichem Strome fließen.
¹⁹⁾ Egoismus und Altruismus (S. 404). Die beiden Grundpfeiler
der geſunden Moral und Sociologie bilden Egoismus (Selbſtliebe) und
Altruismus (Nächſtenliebe) im richtigen Gleichgewicht; das gilt für
den Menſchen ebenſo wie für alle anderen ſocialen Thiere. Ebenſo
wie einerſeits das Gedeihen der Geſellſchaft an dasjenige der Perſonen ge-
knüpft iſt, die ſie zuſammenſetzen, ſo iſt andererſeits die volle Entwickelung
des individuellen Menſchenweſens nur möglich im Zuſammenleben mit
Seinesgleichen. Die Chriſten-Moral predigt die ausſchließliche Geltung
des Altruismus und will dem Egoismus keinerlei Rechte zugeſtehen. Ge-
rade umgekehrt verfährt die moderne Herren-Moral (von Max Stirner,
Friedrich Nietzſche u. A.) Beide Extreme ſind gleich falſch und wider-
ſprechen in gleicher Weiſe den geſunden Forderungen der ſocialen Natur.
Vergleiche Hermann Türck, Friedrich Nietzſche und ſeine philoſophiſchen
Irrwege (Jena 1891). — L. Büchner, Die Philoſophie des Egoismus.
Internationale Literatur-Berichte. IV, 1 (7 Januar 1897).
²⁰⁾ Ausblick auf das zwanzigſte Jahrhundert (S. 440). Die feſte
Ueberzeugung von der Wahrheit der moniſtiſchen Philoſophie,
welche mein Buch über die „Welträthſel“ von Anfang bis zu Ende durch-
zieht, gründet ſich in erſter Linie auf die wunderbaren Fortſchritte der
Natur-Erkenntniß im neunzehnten Jahrhundert. Sie fordert uns aber am
Schluſſe desſelben auf, auch noch einen hoffnungsvollen Ausblick in das
anbrechende zwanzigſte Jahrhundert zu thun und die Frage aufzuwerfen:
„Fühlen wir uns vom Morgenhauch eines neuen Geiſtes berührt, und tragen
wir in uns das ſichere Ahnen und Empfinden eines Höheren
und Beſſeren?“ Julius Hart, deſſen Geſchichte der Weltliteratur
(2 Bände, Berlin 1894) viele Beiträge zur allſeitigen Beleuchtung dieſer
großen Frage liefert, hat dieſelbe vor Kurzem geiſtreich erörtert in einem
neuen Werke: „Zukunftsland. Im Kampf um eine Weltanſchauung.
I. Band: Der neue Gott. Ein Ausblick auf das kommende Jahr-
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