Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

XIX. Reform der Schule.
Im Beginne ist von der beschreibenden Systematik auszugehen (im
Zusammenhang mit Oekologie oder Bionomie); später sind die
Elemente der Anatomie und Physiologie anzuschließen. 8. Ebenso
muß von Physik und Chemie jeder Gebildete die Grundzüge
kennen lernen, sowie deren exakte Begründung durch die Mathe-
matik. 9. Jeder Schüler muß gut zeichnen lernen, und zwar
nach der Natur; womöglich auch aquarelliren. Das Entwerfen
von Zeichnungen und Aquarell-Skizzen nach der Natur (von
Blumen, Thieren, Landschaften, Wolken u. s. w.) weckt nicht nur
das Interesse an der Natur und erhält die Erinnerung an ihren
Genuß, sondern die Schüler lernen dadurch überhaupt erst richtig
sehen und das Gesehene verstehen. 10. Viel mehr Sorg-
falt und Zeit als bisher ist auf die körperliche Aus-
bildung
zu verwenden, auf Turnen und Schwimmen; vorzüglich
aber sind wöchentlich gemeinsame Spaziergänge und jährlich
in den Ferien mehrere Fußreisen zu unternehmen; der hier
gebotene Anschauungs-Unterricht ist von höchstem Werth.

Das Hauptziel der höheren Schulbildung blieb bisher in
den meisten Kulturstaaten die Vorbildung für den späteren Beruf,
Erwerbung eines gewissen Maßes von Kenntnissen und Abrichtung
für die Pflichten des Staatsbürgers. Die Schule des zwanzigsten
Jahrhunderts wird dagegen als Hauptziel die Ausbildung des
selbständigen Denkens verfolgen, das klare Verständniß der
erworbenen Kenntnisse und die Einsicht in den natürlichen
Zusammenhang der Erscheinungen. Wenn der moderne Kultur-
staat jedem Bürger das allgemeine gleiche Wahlrecht zugesteht,
muß er ihm auch die Mittel gewähren, durch gute Schulbildung
seinen Verstand zu entwickeln, um davon zum allgemeinen Besten
eine vernünftige Anwendung zu machen.



27*

XIX. Reform der Schule.
Im Beginne iſt von der beſchreibenden Syſtematik auszugehen (im
Zuſammenhang mit Oekologie oder Bionomie); ſpäter ſind die
Elemente der Anatomie und Phyſiologie anzuſchließen. 8. Ebenſo
muß von Phyſik und Chemie jeder Gebildete die Grundzüge
kennen lernen, ſowie deren exakte Begründung durch die Mathe-
matik. 9. Jeder Schüler muß gut zeichnen lernen, und zwar
nach der Natur; womöglich auch aquarelliren. Das Entwerfen
von Zeichnungen und Aquarell-Skizzen nach der Natur (von
Blumen, Thieren, Landſchaften, Wolken u. ſ. w.) weckt nicht nur
das Intereſſe an der Natur und erhält die Erinnerung an ihren
Genuß, ſondern die Schüler lernen dadurch überhaupt erſt richtig
ſehen und das Geſehene verſtehen. 10. Viel mehr Sorg-
falt und Zeit als bisher iſt auf die körperliche Aus-
bildung
zu verwenden, auf Turnen und Schwimmen; vorzüglich
aber ſind wöchentlich gemeinſame Spaziergänge und jährlich
in den Ferien mehrere Fußreiſen zu unternehmen; der hier
gebotene Anſchauungs-Unterricht iſt von höchſtem Werth.

Das Hauptziel der höheren Schulbildung blieb bisher in
den meiſten Kulturſtaaten die Vorbildung für den ſpäteren Beruf,
Erwerbung eines gewiſſen Maßes von Kenntniſſen und Abrichtung
für die Pflichten des Staatsbürgers. Die Schule des zwanzigſten
Jahrhunderts wird dagegen als Hauptziel die Ausbildung des
ſelbſtändigen Denkens verfolgen, das klare Verſtändniß der
erworbenen Kenntniſſe und die Einſicht in den natürlichen
Zuſammenhang der Erſcheinungen. Wenn der moderne Kultur-
ſtaat jedem Bürger das allgemeine gleiche Wahlrecht zugeſteht,
muß er ihm auch die Mittel gewähren, durch gute Schulbildung
ſeinen Verſtand zu entwickeln, um davon zum allgemeinen Beſten
eine vernünftige Anwendung zu machen.



27*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0435" n="419"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">XIX.</hi> Reform der Schule.</fw><lb/>
Im Beginne i&#x017F;t von der be&#x017F;chreibenden Sy&#x017F;tematik auszugehen (im<lb/>
Zu&#x017F;ammenhang mit Oekologie oder Bionomie); &#x017F;päter &#x017F;ind die<lb/>
Elemente der Anatomie und Phy&#x017F;iologie anzu&#x017F;chließen. 8. Eben&#x017F;o<lb/>
muß von <hi rendition="#g">Phy&#x017F;ik</hi> und <hi rendition="#g">Chemie</hi> jeder Gebildete die Grundzüge<lb/>
kennen lernen, &#x017F;owie deren exakte Begründung durch die Mathe-<lb/>
matik. 9. Jeder Schüler muß gut <hi rendition="#g">zeichnen</hi> lernen, und zwar<lb/>
nach der Natur; womöglich auch aquarelliren. Das Entwerfen<lb/>
von Zeichnungen und Aquarell-Skizzen nach der Natur (von<lb/>
Blumen, Thieren, Land&#x017F;chaften, Wolken u. &#x017F;. w.) weckt nicht nur<lb/>
das Intere&#x017F;&#x017F;e an der Natur und erhält die Erinnerung an ihren<lb/>
Genuß, &#x017F;ondern die Schüler lernen dadurch überhaupt er&#x017F;t richtig<lb/><hi rendition="#g">&#x017F;ehen</hi> und das Ge&#x017F;ehene <hi rendition="#g">ver&#x017F;tehen</hi>. 10. Viel mehr Sorg-<lb/>
falt und Zeit als bisher i&#x017F;t auf die <hi rendition="#g">körperliche Aus-<lb/>
bildung</hi> zu verwenden, auf Turnen und Schwimmen; vorzüglich<lb/>
aber &#x017F;ind wöchentlich gemein&#x017F;ame <hi rendition="#g">Spaziergänge</hi> und jährlich<lb/>
in den Ferien mehrere <hi rendition="#g">Fußrei&#x017F;en</hi> zu unternehmen; der hier<lb/>
gebotene An&#x017F;chauungs-Unterricht i&#x017F;t von höch&#x017F;tem Werth.</p><lb/>
          <p>Das Hauptziel der höheren Schulbildung blieb bisher in<lb/>
den mei&#x017F;ten Kultur&#x017F;taaten die Vorbildung für den &#x017F;päteren Beruf,<lb/>
Erwerbung eines gewi&#x017F;&#x017F;en Maßes von Kenntni&#x017F;&#x017F;en und Abrichtung<lb/>
für die Pflichten des Staatsbürgers. Die Schule des zwanzig&#x017F;ten<lb/>
Jahrhunderts wird dagegen als Hauptziel die Ausbildung des<lb/><hi rendition="#g">&#x017F;elb&#x017F;tändigen Denkens</hi> verfolgen, das klare Ver&#x017F;tändniß der<lb/>
erworbenen Kenntni&#x017F;&#x017F;e und die Ein&#x017F;icht in den natürlichen<lb/>
Zu&#x017F;ammenhang der Er&#x017F;cheinungen. Wenn der moderne Kultur-<lb/>
&#x017F;taat jedem Bürger das allgemeine gleiche Wahlrecht zuge&#x017F;teht,<lb/>
muß er ihm auch die Mittel gewähren, durch gute Schulbildung<lb/>
&#x017F;einen Ver&#x017F;tand zu entwickeln, um davon zum allgemeinen Be&#x017F;ten<lb/>
eine vernünftige Anwendung zu machen.</p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">27*</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[419/0435] XIX. Reform der Schule. Im Beginne iſt von der beſchreibenden Syſtematik auszugehen (im Zuſammenhang mit Oekologie oder Bionomie); ſpäter ſind die Elemente der Anatomie und Phyſiologie anzuſchließen. 8. Ebenſo muß von Phyſik und Chemie jeder Gebildete die Grundzüge kennen lernen, ſowie deren exakte Begründung durch die Mathe- matik. 9. Jeder Schüler muß gut zeichnen lernen, und zwar nach der Natur; womöglich auch aquarelliren. Das Entwerfen von Zeichnungen und Aquarell-Skizzen nach der Natur (von Blumen, Thieren, Landſchaften, Wolken u. ſ. w.) weckt nicht nur das Intereſſe an der Natur und erhält die Erinnerung an ihren Genuß, ſondern die Schüler lernen dadurch überhaupt erſt richtig ſehen und das Geſehene verſtehen. 10. Viel mehr Sorg- falt und Zeit als bisher iſt auf die körperliche Aus- bildung zu verwenden, auf Turnen und Schwimmen; vorzüglich aber ſind wöchentlich gemeinſame Spaziergänge und jährlich in den Ferien mehrere Fußreiſen zu unternehmen; der hier gebotene Anſchauungs-Unterricht iſt von höchſtem Werth. Das Hauptziel der höheren Schulbildung blieb bisher in den meiſten Kulturſtaaten die Vorbildung für den ſpäteren Beruf, Erwerbung eines gewiſſen Maßes von Kenntniſſen und Abrichtung für die Pflichten des Staatsbürgers. Die Schule des zwanzigſten Jahrhunderts wird dagegen als Hauptziel die Ausbildung des ſelbſtändigen Denkens verfolgen, das klare Verſtändniß der erworbenen Kenntniſſe und die Einſicht in den natürlichen Zuſammenhang der Erſcheinungen. Wenn der moderne Kultur- ſtaat jedem Bürger das allgemeine gleiche Wahlrecht zugeſteht, muß er ihm auch die Mittel gewähren, durch gute Schulbildung ſeinen Verſtand zu entwickeln, um davon zum allgemeinen Beſten eine vernünftige Anwendung zu machen. 27*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/435
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/435>, abgerufen am 28.11.2024.