Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.XIX. Schule und Kirche. Basis der modernen Naturerkenntniß -- vor Allem der Ent-wickelungslehre -- erhebt, ist im Laufe der letzten dreißig Jahre eine umfangreiche Literatur erschienen*). Unsere neue ver- gleichende Religionsgeschichte knüpft naturgemäß an den bestehenden Elementar-Unterricht in "biblischer Geschichte" und in der Sagenwelt des griechischen und römischen Alterthums an. Beide bleiben wie bisher wesentliche Bildungs-Elemente. Das ist schon deßhalb selbstverständlich, weil unsere ganze bildende Kunst, das Hauptgebiet unserer monistischen Aesthetik, auf das Innigste mit der christlichen, hellenischen und römischen Mythologie verwachsen ist. Ein wesentlicher Unter- schied im Unterricht wird nur darin eintreten, daß die christlichen Sagen und Legenden nicht als "Wahrheiten" gelehrt werden, sondern gleich den griechischen und römischen als Dichtungen, der hohe Werth des ethischen und ästhetischen Stoffes, den sie enthalten, wird dadurch nicht vermindert, sondern erhöht. -- Was die Bibel betrifft, so sollte dieses "Buch der Bücher" den Kindern nur in sorgfältig gewähltem Auszuge in die Hand ge- geben werden (als "Schulbibel"); dadurch würde die Befleckung der kindlichen Phantasie mit den zahlreichen unsauberen Ge- schichten und unmoralischen Erzählungen verhütet werden, an denen namentlich das Alte Testament so reich ist. Staat und Schule. Nachdem unser moderner Kulturstaat *) Vergl. die S. 400 citirten Schriften von Herbert Spencer, Carneri, Vetter, Ziegler, Ammon, Nordau u. s. w. Haeckel, Welträthsel. 27
XIX. Schule und Kirche. Baſis der modernen Naturerkenntniß — vor Allem der Ent-wickelungslehre — erhebt, iſt im Laufe der letzten dreißig Jahre eine umfangreiche Literatur erſchienen*). Unſere neue ver- gleichende Religionsgeſchichte knüpft naturgemäß an den beſtehenden Elementar-Unterricht in „bibliſcher Geſchichte“ und in der Sagenwelt des griechiſchen und römiſchen Alterthums an. Beide bleiben wie bisher weſentliche Bildungs-Elemente. Das iſt ſchon deßhalb ſelbſtverſtändlich, weil unſere ganze bildende Kunſt, das Hauptgebiet unſerer moniſtiſchen Aeſthetik, auf das Innigſte mit der chriſtlichen, helleniſchen und römiſchen Mythologie verwachſen iſt. Ein weſentlicher Unter- ſchied im Unterricht wird nur darin eintreten, daß die chriſtlichen Sagen und Legenden nicht als „Wahrheiten“ gelehrt werden, ſondern gleich den griechiſchen und römiſchen als Dichtungen, der hohe Werth des ethiſchen und äſthetiſchen Stoffes, den ſie enthalten, wird dadurch nicht vermindert, ſondern erhöht. — Was die Bibel betrifft, ſo ſollte dieſes „Buch der Bücher“ den Kindern nur in ſorgfältig gewähltem Auszuge in die Hand ge- geben werden (als „Schulbibel“); dadurch würde die Befleckung der kindlichen Phantaſie mit den zahlreichen unſauberen Ge- ſchichten und unmoraliſchen Erzählungen verhütet werden, an denen namentlich das Alte Teſtament ſo reich iſt. Staat und Schule. Nachdem unſer moderner Kulturſtaat *) Vergl. die S. 400 citirten Schriften von Herbert Spencer, Carneri, Vetter, Ziegler, Ammon, Nordau u. ſ. w. Haeckel, Welträthſel. 27
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XIX. Schule und Kirche.
Baſis der modernen Naturerkenntniß — vor Allem der Ent-
wickelungslehre — erhebt, iſt im Laufe der letzten dreißig
Jahre eine umfangreiche Literatur erſchienen *). Unſere neue ver-
gleichende Religionsgeſchichte knüpft naturgemäß an
den beſtehenden Elementar-Unterricht in „bibliſcher Geſchichte“
und in der Sagenwelt des griechiſchen und römiſchen Alterthums
an. Beide bleiben wie bisher weſentliche Bildungs-Elemente.
Das iſt ſchon deßhalb ſelbſtverſtändlich, weil unſere ganze
bildende Kunſt, das Hauptgebiet unſerer moniſtiſchen
Aeſthetik, auf das Innigſte mit der chriſtlichen, helleniſchen
und römiſchen Mythologie verwachſen iſt. Ein weſentlicher Unter-
ſchied im Unterricht wird nur darin eintreten, daß die chriſtlichen
Sagen und Legenden nicht als „Wahrheiten“ gelehrt werden,
ſondern gleich den griechiſchen und römiſchen als Dichtungen,
der hohe Werth des ethiſchen und äſthetiſchen Stoffes, den ſie
enthalten, wird dadurch nicht vermindert, ſondern erhöht. —
Was die Bibel betrifft, ſo ſollte dieſes „Buch der Bücher“ den
Kindern nur in ſorgfältig gewähltem Auszuge in die Hand ge-
geben werden (als „Schulbibel“); dadurch würde die Befleckung
der kindlichen Phantaſie mit den zahlreichen unſauberen Ge-
ſchichten und unmoraliſchen Erzählungen verhütet werden, an
denen namentlich das Alte Teſtament ſo reich iſt.
Staat und Schule. Nachdem unſer moderner Kulturſtaat
ſich und die Schule von den Sklaven-Feſſeln der Kirche befreit
hat, wird er um ſo mehr ſeine Kraft und Fürſorge der Pflege
der Schule widmen können. Der unſchätzbare Werth eines
guten Schul-Unterrichts iſt uns um ſo mehr zum Bewußtſein
gekommen, je reicher und großartiger ſich im Laufe des 19. Jahr-
hunderts alle Zweige des modernen Kultur-Lebens entfaltet haben.
*) Vergl. die S. 400 citirten Schriften von Herbert Spencer,
Carneri, Vetter, Ziegler, Ammon, Nordau u. ſ. w.
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