Alle biologischen Untersuchungen, alle Forschungen über die Gestaltung und Lebensthätigkeit der Organismen haben zunächst den sichtbaren Körper in's Auge zu fassen, an welchem uns die betreffenden morphologischen und physiologischen Er- scheinungen entgegentreten. Dieser Grundsatz gilt ebenso für den Menschen wie für alle anderen belebten Naturkörper. Dabei darf sich die Untersuchung nicht mit der Betrachtung der äußeren Gestalt begnügen, sondern sie muß in das Innere derselben eindringen und ihre Zusammensetzung aus den gröberen und feineren Bestandtheilen erforschen. Die Wissenschaft, welche diese grundlegende Untersuchung im weitesten Umfange aus- zuführen hat, ist die Anatomie.
Menschliche Anatomie. Die erste Anregung zur Er- kenntniß des menschlichen Körperbaues ging naturgemäß von der Heilkunde aus. Da diese bei den ältesten Kulturvölkern ge- wöhnlich von den Priestern ausgeübt wurde, dürfen wir an- nehmen, daß diese höchsten Vertreter der damaligen Bildung schon im zweiten Jahrtausend vor Christo und früher über ein gewisses Maaß von anatomischen Kenntnissen verfügten. Aber genauere Erfahrungen, gewonnen durch die Zergliederung von Säugethieren und von diesen übertragen auf den Menschen, finden wir erst bei den griechischen Natur-Philosophen des sechsten und fünften Jahrhunderts vor Chr., bei Empedokles (von Agrigent) und Demokritos (von Abdera), vor Allen aber bei dem berühmtesten Arzte des klassischen Alterthums, bei
Alle biologiſchen Unterſuchungen, alle Forſchungen über die Geſtaltung und Lebensthätigkeit der Organismen haben zunächſt den ſichtbaren Körper in's Auge zu faſſen, an welchem uns die betreffenden morphologiſchen und phyſiologiſchen Er- ſcheinungen entgegentreten. Dieſer Grundſatz gilt ebenſo für den Menſchen wie für alle anderen belebten Naturkörper. Dabei darf ſich die Unterſuchung nicht mit der Betrachtung der äußeren Geſtalt begnügen, ſondern ſie muß in das Innere derſelben eindringen und ihre Zuſammenſetzung aus den gröberen und feineren Beſtandtheilen erforſchen. Die Wiſſenſchaft, welche dieſe grundlegende Unterſuchung im weiteſten Umfange aus- zuführen hat, iſt die Anatomie.
Menſchliche Anatomie. Die erſte Anregung zur Er- kenntniß des menſchlichen Körperbaues ging naturgemäß von der Heilkunde aus. Da dieſe bei den älteſten Kulturvölkern ge- wöhnlich von den Prieſtern ausgeübt wurde, dürfen wir an- nehmen, daß dieſe höchſten Vertreter der damaligen Bildung ſchon im zweiten Jahrtauſend vor Chriſto und früher über ein gewiſſes Maaß von anatomiſchen Kenntniſſen verfügten. Aber genauere Erfahrungen, gewonnen durch die Zergliederung von Säugethieren und von dieſen übertragen auf den Menſchen, finden wir erſt bei den griechiſchen Natur-Philoſophen des ſechſten und fünften Jahrhunderts vor Chr., bei Empedokles (von Agrigent) und Demokritos (von Abdera), vor Allen aber bei dem berühmteſten Arzte des klaſſiſchen Alterthums, bei
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[[27]/0043]
Alle biologiſchen Unterſuchungen, alle Forſchungen über die
Geſtaltung und Lebensthätigkeit der Organismen haben zunächſt
den ſichtbaren Körper in's Auge zu faſſen, an welchem uns
die betreffenden morphologiſchen und phyſiologiſchen Er-
ſcheinungen entgegentreten. Dieſer Grundſatz gilt ebenſo für
den Menſchen wie für alle anderen belebten Naturkörper.
Dabei darf ſich die Unterſuchung nicht mit der Betrachtung
der äußeren Geſtalt begnügen, ſondern ſie muß in das Innere
derſelben eindringen und ihre Zuſammenſetzung aus den gröberen
und feineren Beſtandtheilen erforſchen. Die Wiſſenſchaft, welche
dieſe grundlegende Unterſuchung im weiteſten Umfange aus-
zuführen hat, iſt die Anatomie.
Menſchliche Anatomie. Die erſte Anregung zur Er-
kenntniß des menſchlichen Körperbaues ging naturgemäß von der
Heilkunde aus. Da dieſe bei den älteſten Kulturvölkern ge-
wöhnlich von den Prieſtern ausgeübt wurde, dürfen wir an-
nehmen, daß dieſe höchſten Vertreter der damaligen Bildung
ſchon im zweiten Jahrtauſend vor Chriſto und früher über ein
gewiſſes Maaß von anatomiſchen Kenntniſſen verfügten. Aber
genauere Erfahrungen, gewonnen durch die Zergliederung von
Säugethieren und von dieſen übertragen auf den Menſchen,
finden wir erſt bei den griechiſchen Natur-Philoſophen des
ſechſten und fünften Jahrhunderts vor Chr., bei Empedokles
(von Agrigent) und Demokritos (von Abdera), vor Allen
aber bei dem berühmteſten Arzte des klaſſiſchen Alterthums, bei
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. [27]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/43>, abgerufen am 18.12.2024.
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