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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XIX. Das goldene Sittengesetz.
ebenso heilige Pflichten gegen uns selbst wie gegen unsere Mit-
menschen haben. Ich habe meine Auffassung dieses Grundprincips
bereits 1892 in meinem "Monismus" auseinandergesetzt
(S. 29, 45) und dabei besonders drei wichtige Sätze betont:
I. Beide konkurrirende Triebe sind Naturgesetze, die zum
Bestehen der Familie und der Gesellschaft gleich wichtig und
gleich nothwendig sind; der Egoismus ermöglicht die Selbst-
erhaltung des Individuums, der Altruismus diejenige der
Gattung und Species, die sich aus der Kette der vergänglichen
Individuen zusammensetzt. II. Die socialen Pflichten,
welche die Gesellschaftsbildung den associirten Menschen auf-
erlegt, und durch welche sich dieselbe erhält, sind nur höhere
Entwickelungsformen der socialen Instinkte, welche wir bei
allen höheren, gesellig lebenden Thieren finden (als "erblich ge-
wordene Gewohnheiten"). III. Beim Kulturmenschen steht alle
Ethik, sowohl die theoretische als die praktische Sittenlehre,
als "Normwissenschaft" in Zusammenhang mit der Welt-
anschauung
und demnach auch mit der Religion.

Das ethische Grundgesetz. (Das Goldene Sitten-
gesetz
.) Aus der Anerkennung unseres Fundamental-Princips
der Moral ergiebt sich unmittelbar das höchste Gebot derselben,
jenes Pflichtgebot, das man jetzt oft als das Goldene Sitten-
gesetz
oder kurz als die "Goldene Regel" bezeichnet. Christus
sprach dasselbe wiederholt in dem einfachen Satze aus: "Du
sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst"

(Matthäus 19, 19; 22, 39, 40; Römer 13, 9 u. s. w.); der
Evangelist Markus (12, 31) fügte ganz richtig hinzu: "Es ist
kein größeres Gebot als dieses"; und Matthäus sagte: "In
diesen zwei Geboten hänget das ganze Gesetz und die Propheten."
In diesem wichtigsten und höchsten Gebote stimmt unsere mo-
nistische Ethik
vollkommen mit der christlichen überein.
Nur müssen wir gleich die historische Thatsache hinzufügen, daß

XIX. Das goldene Sittengeſetz.
ebenſo heilige Pflichten gegen uns ſelbſt wie gegen unſere Mit-
menſchen haben. Ich habe meine Auffaſſung dieſes Grundprincips
bereits 1892 in meinem „Monismus“ auseinandergeſetzt
(S. 29, 45) und dabei beſonders drei wichtige Sätze betont:
I. Beide konkurrirende Triebe ſind Naturgeſetze, die zum
Beſtehen der Familie und der Geſellſchaft gleich wichtig und
gleich nothwendig ſind; der Egoismus ermöglicht die Selbſt-
erhaltung des Individuums, der Altruismus diejenige der
Gattung und Species, die ſich aus der Kette der vergänglichen
Individuen zuſammenſetzt. II. Die ſocialen Pflichten,
welche die Geſellſchaftsbildung den aſſociirten Menſchen auf-
erlegt, und durch welche ſich dieſelbe erhält, ſind nur höhere
Entwickelungsformen der ſocialen Inſtinkte, welche wir bei
allen höheren, geſellig lebenden Thieren finden (als „erblich ge-
wordene Gewohnheiten“). III. Beim Kulturmenſchen ſteht alle
Ethik, ſowohl die theoretiſche als die praktiſche Sittenlehre,
als „Normwiſſenſchaft“ in Zuſammenhang mit der Welt-
anſchauung
und demnach auch mit der Religion.

Das ethiſche Grundgeſetz. (Das Goldene Sitten-
geſetz
.) Aus der Anerkennung unſeres Fundamental-Princips
der Moral ergiebt ſich unmittelbar das höchſte Gebot derſelben,
jenes Pflichtgebot, das man jetzt oft als das Goldene Sitten-
geſetz
oder kurz als die „Goldene Regel“ bezeichnet. Chriſtus
ſprach dasſelbe wiederholt in dem einfachen Satze aus: „Du
ſollſt deinen Nächſten lieben wie dich ſelbſt“

(Matthäus 19, 19; 22, 39, 40; Römer 13, 9 u. ſ. w.); der
Evangeliſt Markus (12, 31) fügte ganz richtig hinzu: „Es iſt
kein größeres Gebot als dieſes“; und Matthäus ſagte: „In
dieſen zwei Geboten hänget das ganze Geſetz und die Propheten.“
In dieſem wichtigſten und höchſten Gebote ſtimmt unſere mo-
niſtiſche Ethik
vollkommen mit der chriſtlichen überein.
Nur müſſen wir gleich die hiſtoriſche Thatſache hinzufügen, daß

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[405/0421] XIX. Das goldene Sittengeſetz. ebenſo heilige Pflichten gegen uns ſelbſt wie gegen unſere Mit- menſchen haben. Ich habe meine Auffaſſung dieſes Grundprincips bereits 1892 in meinem „Monismus“ auseinandergeſetzt (S. 29, 45) und dabei beſonders drei wichtige Sätze betont: I. Beide konkurrirende Triebe ſind Naturgeſetze, die zum Beſtehen der Familie und der Geſellſchaft gleich wichtig und gleich nothwendig ſind; der Egoismus ermöglicht die Selbſt- erhaltung des Individuums, der Altruismus diejenige der Gattung und Species, die ſich aus der Kette der vergänglichen Individuen zuſammenſetzt. II. Die ſocialen Pflichten, welche die Geſellſchaftsbildung den aſſociirten Menſchen auf- erlegt, und durch welche ſich dieſelbe erhält, ſind nur höhere Entwickelungsformen der ſocialen Inſtinkte, welche wir bei allen höheren, geſellig lebenden Thieren finden (als „erblich ge- wordene Gewohnheiten“). III. Beim Kulturmenſchen ſteht alle Ethik, ſowohl die theoretiſche als die praktiſche Sittenlehre, als „Normwiſſenſchaft“ in Zuſammenhang mit der Welt- anſchauung und demnach auch mit der Religion. Das ethiſche Grundgeſetz. (Das Goldene Sitten- geſetz.) Aus der Anerkennung unſeres Fundamental-Princips der Moral ergiebt ſich unmittelbar das höchſte Gebot derſelben, jenes Pflichtgebot, das man jetzt oft als das Goldene Sitten- geſetz oder kurz als die „Goldene Regel“ bezeichnet. Chriſtus ſprach dasſelbe wiederholt in dem einfachen Satze aus: „Du ſollſt deinen Nächſten lieben wie dich ſelbſt“ (Matthäus 19, 19; 22, 39, 40; Römer 13, 9 u. ſ. w.); der Evangeliſt Markus (12, 31) fügte ganz richtig hinzu: „Es iſt kein größeres Gebot als dieſes“; und Matthäus ſagte: „In dieſen zwei Geboten hänget das ganze Geſetz und die Propheten.“ In dieſem wichtigſten und höchſten Gebote ſtimmt unſere mo- niſtiſche Ethik vollkommen mit der chriſtlichen überein. Nur müſſen wir gleich die hiſtoriſche Thatſache hinzufügen, daß

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/421>, abgerufen am 23.11.2024.