Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

XIX. Reine und praktische Vernunft.
Kultur-Nationen. Alle Sitten und Gebräuche, die wir als ver-
werfliche Sünden oder abscheuliche Laster ansehen (Diebstahl,
Betrug, Mord, Ehebruch u. s. w.), gelten bei anderen Völkern
unter Umständen als Tugenden oder selbst als Pflichtgebote.

Obgleich nun der offenkundige Gegensatz der beiden Ver-
nünfte von Kant, der principielle Antagonismus der reinen
und der praktischen Vernunft, schon im Anfange des Jahr-
hunderts erkannt und widerlegt wurde, blieb er doch bis heute
in weiten Kreisen herrschend. Die moderne Schule der Neo-
kantianer
predigt noch heute den "Rückgang auf Kant" so
eindringlich gerade wegen dieses willkommenen Dualismus,
und die streitende Kirche unterstützt sie dabei auf's Wärmste, weil
ihr eigener mystischer Glaube dazu vortrefflich paßt. Eine wirk-
same Niederlage bereitete demselben erst die moderne Naturwissen-
schaft in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts; die Voraus-
setzungen der praktischen Vernunftlehre wurden dadurch hinfällig.
Die monistische Kosmologie bewies auf Grund des Substanz-
Gesetzes, daß es keinen "persönlichen Gott" giebt; die vergleichende
und genetische Psychologie zeigte, daß eine "unsterbliche Seele"
nicht existiren kann, und die monistische Physiologie wies nach,
daß die Annahme des "freien Willens" auf Täuschung beruht.
Die Entwickelungslehre endlich machte klar, daß die "ewigen,
ehernen Naturgesetze"
der anorganischen Welt auch in der
organischen und moralischen Welt Geltung haben.

Unsere moderne Naturerkenntniß wirkt aber für die praktische
Philosophie und Ethik nicht nur negativ, indem sie den
kantischen Dualismus zertrümmert, sondern auch positiv,
indem sie an dessen Stelle das neue Gebäude des ethischen
Monismus
setzt. Sie zeigt, daß das Pflichtgefühl des
Menschen nicht auf einem illusorischen "kategorischen Im-
perativ
" beruht, sondern auf dem realen Boden der
socialen Instinkte,
die wir bei allen gesellig lebenden

26*

XIX. Reine und praktiſche Vernunft.
Kultur-Nationen. Alle Sitten und Gebräuche, die wir als ver-
werfliche Sünden oder abſcheuliche Laſter anſehen (Diebſtahl,
Betrug, Mord, Ehebruch u. ſ. w.), gelten bei anderen Völkern
unter Umſtänden als Tugenden oder ſelbſt als Pflichtgebote.

Obgleich nun der offenkundige Gegenſatz der beiden Ver-
nünfte von Kant, der principielle Antagonismus der reinen
und der praktiſchen Vernunft, ſchon im Anfange des Jahr-
hunderts erkannt und widerlegt wurde, blieb er doch bis heute
in weiten Kreiſen herrſchend. Die moderne Schule der Neo-
kantianer
predigt noch heute den „Rückgang auf Kant“ ſo
eindringlich gerade wegen dieſes willkommenen Dualismus,
und die ſtreitende Kirche unterſtützt ſie dabei auf's Wärmſte, weil
ihr eigener myſtiſcher Glaube dazu vortrefflich paßt. Eine wirk-
ſame Niederlage bereitete demſelben erſt die moderne Naturwiſſen-
ſchaft in der zweiten Hälfte unſeres Jahrhunderts; die Voraus-
ſetzungen der praktiſchen Vernunftlehre wurden dadurch hinfällig.
Die moniſtiſche Kosmologie bewies auf Grund des Subſtanz-
Geſetzes, daß es keinen „perſönlichen Gott“ giebt; die vergleichende
und genetiſche Pſychologie zeigte, daß eine „unſterbliche Seele“
nicht exiſtiren kann, und die moniſtiſche Phyſiologie wies nach,
daß die Annahme des „freien Willens“ auf Täuſchung beruht.
Die Entwickelungslehre endlich machte klar, daß die „ewigen,
ehernen Naturgeſetze“
der anorganiſchen Welt auch in der
organiſchen und moraliſchen Welt Geltung haben.

Unſere moderne Naturerkenntniß wirkt aber für die praktiſche
Philoſophie und Ethik nicht nur negativ, indem ſie den
kantiſchen Dualismus zertrümmert, ſondern auch poſitiv,
indem ſie an deſſen Stelle das neue Gebäude des ethiſchen
Monismus
ſetzt. Sie zeigt, daß das Pflichtgefühl des
Menſchen nicht auf einem illuſoriſchen „kategoriſchen Im-
perativ
“ beruht, ſondern auf dem realen Boden der
ſocialen Inſtinkte,
die wir bei allen geſellig lebenden

26*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0419" n="403"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">XIX.</hi> Reine und prakti&#x017F;che Vernunft.</fw><lb/>
Kultur-Nationen. Alle Sitten und Gebräuche, die wir als ver-<lb/>
werfliche Sünden oder ab&#x017F;cheuliche La&#x017F;ter an&#x017F;ehen (Dieb&#x017F;tahl,<lb/>
Betrug, Mord, Ehebruch u. &#x017F;. w.), gelten bei anderen Völkern<lb/>
unter Um&#x017F;tänden als Tugenden oder &#x017F;elb&#x017F;t als Pflichtgebote.</p><lb/>
          <p>Obgleich nun der offenkundige Gegen&#x017F;atz der beiden Ver-<lb/>
nünfte von <hi rendition="#g">Kant,</hi> der principielle Antagonismus der <hi rendition="#g">reinen</hi><lb/>
und der <hi rendition="#g">prakti&#x017F;chen</hi> Vernunft, &#x017F;chon im Anfange des Jahr-<lb/>
hunderts erkannt und widerlegt wurde, blieb er doch bis heute<lb/>
in weiten Krei&#x017F;en herr&#x017F;chend. Die moderne Schule der <hi rendition="#g">Neo-<lb/>
kantianer</hi> predigt noch heute den &#x201E;Rückgang auf Kant&#x201C; &#x017F;o<lb/>
eindringlich gerade <hi rendition="#g">wegen</hi> die&#x017F;es willkommenen <hi rendition="#g">Dualismus,</hi><lb/>
und die &#x017F;treitende Kirche unter&#x017F;tützt &#x017F;ie dabei auf's Wärm&#x017F;te, weil<lb/>
ihr eigener my&#x017F;ti&#x017F;cher Glaube dazu vortrefflich paßt. Eine wirk-<lb/>
&#x017F;ame Niederlage bereitete dem&#x017F;elben er&#x017F;t die moderne Naturwi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;chaft in der zweiten Hälfte un&#x017F;eres Jahrhunderts; die Voraus-<lb/>
&#x017F;etzungen der prakti&#x017F;chen Vernunftlehre wurden dadurch hinfällig.<lb/>
Die moni&#x017F;ti&#x017F;che Kosmologie bewies auf Grund des Sub&#x017F;tanz-<lb/>
Ge&#x017F;etzes, daß es keinen &#x201E;per&#x017F;önlichen Gott&#x201C; giebt; die vergleichende<lb/>
und geneti&#x017F;che P&#x017F;ychologie zeigte, daß eine &#x201E;un&#x017F;terbliche Seele&#x201C;<lb/>
nicht exi&#x017F;tiren kann, und die moni&#x017F;ti&#x017F;che Phy&#x017F;iologie wies nach,<lb/>
daß die Annahme des &#x201E;freien Willens&#x201C; auf Täu&#x017F;chung beruht.<lb/>
Die Entwickelungslehre endlich machte klar, daß die <hi rendition="#g">&#x201E;ewigen,<lb/>
ehernen Naturge&#x017F;etze&#x201C;</hi> der anorgani&#x017F;chen Welt auch in der<lb/>
organi&#x017F;chen und morali&#x017F;chen Welt Geltung haben.</p><lb/>
          <p>Un&#x017F;ere moderne Naturerkenntniß wirkt aber für die prakti&#x017F;che<lb/>
Philo&#x017F;ophie und Ethik nicht nur <hi rendition="#g">negativ,</hi> indem &#x017F;ie den<lb/>
kanti&#x017F;chen Dualismus zertrümmert, &#x017F;ondern auch <hi rendition="#g">po&#x017F;itiv,</hi><lb/>
indem &#x017F;ie an de&#x017F;&#x017F;en Stelle das neue Gebäude des <hi rendition="#g">ethi&#x017F;chen<lb/>
Monismus</hi> &#x017F;etzt. Sie zeigt, daß das <hi rendition="#g">Pflichtgefühl</hi> des<lb/>
Men&#x017F;chen nicht auf einem illu&#x017F;ori&#x017F;chen &#x201E;<hi rendition="#g">kategori&#x017F;chen Im-<lb/>
perativ</hi>&#x201C; beruht, &#x017F;ondern auf dem <hi rendition="#g">realen Boden der<lb/>
&#x017F;ocialen In&#x017F;tinkte,</hi> die wir bei allen ge&#x017F;ellig lebenden<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">26*</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[403/0419] XIX. Reine und praktiſche Vernunft. Kultur-Nationen. Alle Sitten und Gebräuche, die wir als ver- werfliche Sünden oder abſcheuliche Laſter anſehen (Diebſtahl, Betrug, Mord, Ehebruch u. ſ. w.), gelten bei anderen Völkern unter Umſtänden als Tugenden oder ſelbſt als Pflichtgebote. Obgleich nun der offenkundige Gegenſatz der beiden Ver- nünfte von Kant, der principielle Antagonismus der reinen und der praktiſchen Vernunft, ſchon im Anfange des Jahr- hunderts erkannt und widerlegt wurde, blieb er doch bis heute in weiten Kreiſen herrſchend. Die moderne Schule der Neo- kantianer predigt noch heute den „Rückgang auf Kant“ ſo eindringlich gerade wegen dieſes willkommenen Dualismus, und die ſtreitende Kirche unterſtützt ſie dabei auf's Wärmſte, weil ihr eigener myſtiſcher Glaube dazu vortrefflich paßt. Eine wirk- ſame Niederlage bereitete demſelben erſt die moderne Naturwiſſen- ſchaft in der zweiten Hälfte unſeres Jahrhunderts; die Voraus- ſetzungen der praktiſchen Vernunftlehre wurden dadurch hinfällig. Die moniſtiſche Kosmologie bewies auf Grund des Subſtanz- Geſetzes, daß es keinen „perſönlichen Gott“ giebt; die vergleichende und genetiſche Pſychologie zeigte, daß eine „unſterbliche Seele“ nicht exiſtiren kann, und die moniſtiſche Phyſiologie wies nach, daß die Annahme des „freien Willens“ auf Täuſchung beruht. Die Entwickelungslehre endlich machte klar, daß die „ewigen, ehernen Naturgeſetze“ der anorganiſchen Welt auch in der organiſchen und moraliſchen Welt Geltung haben. Unſere moderne Naturerkenntniß wirkt aber für die praktiſche Philoſophie und Ethik nicht nur negativ, indem ſie den kantiſchen Dualismus zertrümmert, ſondern auch poſitiv, indem ſie an deſſen Stelle das neue Gebäude des ethiſchen Monismus ſetzt. Sie zeigt, daß das Pflichtgefühl des Menſchen nicht auf einem illuſoriſchen „kategoriſchen Im- perativ“ beruht, ſondern auf dem realen Boden der ſocialen Inſtinkte, die wir bei allen geſellig lebenden 26*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/419
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/419>, abgerufen am 23.11.2024.