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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Papismus und Geisteskultur. XVII.
rühmt wohl am Mittelalter, daß andere Seiten des Geistes-
lebens darin zu reicher Entfaltung gekommen seien, Dichtkunst
und bildende Kunst, scholastische Gelehrsamkeit und patristische
Philosophie. Aber diese Kulturthätigkeit befand sich im Dienste
der herrschenden Kirche und wurde nicht zur Hebung, sondern
zur Unterdrückung der freien Geistesforschung verwandt. Die
ausschließliche Vorbereitung für ein unbekanntes "ewiges Leben
im Jenseits", die Verachtung der Natur, die Abwendung von
ihrem Studium, welche im Princip der christlichen Religion
innewohnt, wurde von der römischen Hierarchie zur heiligen
Pflicht gemacht. Eine Wandlung zum Besseren geschah erst im
Beginn des 16. Jahrhunderts durch die Reformation.

Rückschritte der Kultur im Mittelalter. Es würde uns
viel zu weit führen, wenn wir hier die jammervollen Rückschritte
schildern wollten, welche menschliche Kultur und Gesittung während
zwölf Jahrhunderten unter der geistigen Gewaltherrschaft des
Papismus erlitten. Am prägnantesten sind dieselben wohl durch
einen einzigen Satz des größten und geistreichsten Hohen-
zollern
-Fürsten illustrirt; Friedrich der Große faßte sein
Urtheil in dem Satze zusammen, man werde durch das Studium
der Geschichte
zu der Ueberzeugung geführt, daß von Kon-
stantin dem Großen bis auf die Zeit der Reformation die
ganze Welt wahnsinnig
gewesen sei. Eine vortreffliche
kurze Schilderung dieser "Wahnsinns-Periode" hat (1887)
L. Büchner gegeben, in seiner Schrift "Ueber religiöse und
wissenschaftliche Weltanschauung". Wer sich näher darüber
unterrichten will, den verweisen wir auf die Geschichtswerke von
Ranke, Draper, Kolb, Svoboda u. s. w. Die wahrheits-
gemäße Darstellung, welche diese und andere unbefangene Histo-
riker von den grauenhaften Zuständen des christlichen
Mittelalters
geben, wird bestätigt durch alle ehrliche
Quellenforschung und durch die kulturgeschichtlichen Denkmäler,

Papismus und Geiſteskultur. XVII.
rühmt wohl am Mittelalter, daß andere Seiten des Geiſtes-
lebens darin zu reicher Entfaltung gekommen ſeien, Dichtkunſt
und bildende Kunſt, ſcholaſtiſche Gelehrſamkeit und patriſtiſche
Philoſophie. Aber dieſe Kulturthätigkeit befand ſich im Dienſte
der herrſchenden Kirche und wurde nicht zur Hebung, ſondern
zur Unterdrückung der freien Geiſtesforſchung verwandt. Die
ausſchließliche Vorbereitung für ein unbekanntes „ewiges Leben
im Jenſeits“, die Verachtung der Natur, die Abwendung von
ihrem Studium, welche im Princip der chriſtlichen Religion
innewohnt, wurde von der römiſchen Hierarchie zur heiligen
Pflicht gemacht. Eine Wandlung zum Beſſeren geſchah erſt im
Beginn des 16. Jahrhunderts durch die Reformation.

Rückſchritte der Kultur im Mittelalter. Es würde uns
viel zu weit führen, wenn wir hier die jammervollen Rückſchritte
ſchildern wollten, welche menſchliche Kultur und Geſittung während
zwölf Jahrhunderten unter der geiſtigen Gewaltherrſchaft des
Papismus erlitten. Am prägnanteſten ſind dieſelben wohl durch
einen einzigen Satz des größten und geiſtreichſten Hohen-
zollern
-Fürſten illuſtrirt; Friedrich der Große faßte ſein
Urtheil in dem Satze zuſammen, man werde durch das Studium
der Geſchichte
zu der Ueberzeugung geführt, daß von Kon-
ſtantin dem Großen bis auf die Zeit der Reformation die
ganze Welt wahnſinnig
geweſen ſei. Eine vortreffliche
kurze Schilderung dieſer „Wahnſinns-Periode“ hat (1887)
L. Büchner gegeben, in ſeiner Schrift „Ueber religiöſe und
wiſſenſchaftliche Weltanſchauung“. Wer ſich näher darüber
unterrichten will, den verweiſen wir auf die Geſchichtswerke von
Ranke, Draper, Kolb, Svoboda u. ſ. w. Die wahrheits-
gemäße Darſtellung, welche dieſe und andere unbefangene Hiſto-
riker von den grauenhaften Zuſtänden des chriſtlichen
Mittelalters
geben, wird beſtätigt durch alle ehrliche
Quellenforſchung und durch die kulturgeſchichtlichen Denkmäler,

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[364/0380] Papismus und Geiſteskultur. XVII. rühmt wohl am Mittelalter, daß andere Seiten des Geiſtes- lebens darin zu reicher Entfaltung gekommen ſeien, Dichtkunſt und bildende Kunſt, ſcholaſtiſche Gelehrſamkeit und patriſtiſche Philoſophie. Aber dieſe Kulturthätigkeit befand ſich im Dienſte der herrſchenden Kirche und wurde nicht zur Hebung, ſondern zur Unterdrückung der freien Geiſtesforſchung verwandt. Die ausſchließliche Vorbereitung für ein unbekanntes „ewiges Leben im Jenſeits“, die Verachtung der Natur, die Abwendung von ihrem Studium, welche im Princip der chriſtlichen Religion innewohnt, wurde von der römiſchen Hierarchie zur heiligen Pflicht gemacht. Eine Wandlung zum Beſſeren geſchah erſt im Beginn des 16. Jahrhunderts durch die Reformation. Rückſchritte der Kultur im Mittelalter. Es würde uns viel zu weit führen, wenn wir hier die jammervollen Rückſchritte ſchildern wollten, welche menſchliche Kultur und Geſittung während zwölf Jahrhunderten unter der geiſtigen Gewaltherrſchaft des Papismus erlitten. Am prägnanteſten ſind dieſelben wohl durch einen einzigen Satz des größten und geiſtreichſten Hohen- zollern-Fürſten illuſtrirt; Friedrich der Große faßte ſein Urtheil in dem Satze zuſammen, man werde durch das Studium der Geſchichte zu der Ueberzeugung geführt, daß von Kon- ſtantin dem Großen bis auf die Zeit der Reformation die ganze Welt wahnſinnig geweſen ſei. Eine vortreffliche kurze Schilderung dieſer „Wahnſinns-Periode“ hat (1887) L. Büchner gegeben, in ſeiner Schrift „Ueber religiöſe und wiſſenſchaftliche Weltanſchauung“. Wer ſich näher darüber unterrichten will, den verweiſen wir auf die Geſchichtswerke von Ranke, Draper, Kolb, Svoboda u. ſ. w. Die wahrheits- gemäße Darſtellung, welche dieſe und andere unbefangene Hiſto- riker von den grauenhaften Zuſtänden des chriſtlichen Mittelalters geben, wird beſtätigt durch alle ehrliche Quellenforſchung und durch die kulturgeſchichtlichen Denkmäler,

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/380>, abgerufen am 27.11.2024.